Arbeitsrecht

Annahmeverzug und Anrechnung böswillig unterlassenen Verdiensts

Das Risiko, im Fall einer unwirksamen Kündigung rückständiges Gehalt zahlen zu müssen, kann jeden Arbeitgeber treffen. Die Rechtsprechung zum Annahmeverzug und zur Anrechnung anderweitigen oder böswillig unterlassenen Verdiensts auf das Gehalt hat in den vergangenen Jahren einen Wandel vollzogen. In seiner Entscheidung vom 27. Januar 2024 (5 AZR 331/22) bestätigt das BAG diese Linie und unterstreicht die Bedeutung der Darlegungs- und Beweislast im Prozess.

Sachverhalt 

Die Klägerin machte für die Monate Mai bis September 2014 die Zahlung ihres Arbeitsentgelts, des Zuschusses zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung sowie des Urlaubsgelds als Annahmeverzugslohn geltend. Die Klägerin war bei der Beklagten beschäftigt und zugleich deren Geschäftsführerin. Grundlage war ein Geschäftsführervertrag. Nach ihrer Abberufung als Geschäftsführerin war sie weiterhin für die Beklagte zu der im Vertrag geregelten Vergütung tätig. Die Beklagte kündigte im Jahr 2014 mehrfach das Arbeitsverhältnis der Klägerin und stellte sie frei. Die Klägerin erhob Kündigungsschutzklage und meldete sich arbeitssuchend. Das Arbeitsgericht Gera bestätigte nur die zuletzt am 29. September 2014 ausgesprochene außerordentliche Kündigung; die Berufung der Klägerin hiergegen wies das LAG Thüringen zurück. Die Arbeitsagentur konnte der Klägerin bis Ende 2015 keine Beschäftigung vermitteln. Es blieb unklar, wie die Klägerin im streitigen Zeitraum ihren Lebensunterhalt bestritt und ob sie vom Geschäftsführer der Beklagten als ihrem Ehemann Unterhalt erhielt. Im März 2014 wurde die Klägerin zur Geschäftsführerin einer anderen GmbH bestellt. Sie erhielt hierfür kein Entgelt, sondern lediglich die Aussicht auf eine Gewinnbeteiligung. Diese GmbH wurde später persönlich haftende Gesellschafterin einer GmbH & Co. KG, die bis Oktober 2015 Verluste erzielte. Das Arbeitsgericht gab der Klage auf Annahmeverzugslohn statt, das LAG wies die Berufung der Beklagten zurück.

Die Entscheidung

Das BAG hielt die Revision für begründet und verwies zurück an das LAG:

  • Das BAG bestätigte, dass sich die Beklagte im maßgeblichen Zeitraum im Annahmeverzug befand. Grundsätzlich setzt ein Annahmeverzug voraus, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung tatsächlich oder jedenfalls wörtlich anbietet und der Arbeitgeber die Leistung nicht annimmt. Ein Arbeitsangebot war im vorliegenden Fall entbehrlich (§ 296 BGB), da die Beklagte mit ihrer (rechtskräftig festgestellten) unwirksamen Kündigung unmissverständlich zum Ausdruck brachte, sie werde die Arbeitsleistung der Klägerin nicht annehmen.
  • Der Anspruch auf Annahmeverzugslohn (§ 615 S. 1 BGB) umfasst die vereinbarte Vergütung im streitgegenständlichen Zeitraum. Neben der Bruttomonatsvergütung beinhaltete der Anspruch nach dem BAG auch die Zuschüsse zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung sowie das Urlaubsgeld der Klägerin.
  • Das LAG hat nach dem BAG die sekundäre Darlegungslast im Rahmen von § 11 Nr. 1 KSchG verkannt. Nach § 11 Nr. 1 KSchG muss sich ein Arbeitnehmer auf den Annahmeverzugslohn dasjenige rechnen lassen, was er durch anderweitige Arbeit verdient hat. Der anderweitige Verdienst muss kausal durch das Freiwerden von der bisherigen Arbeitspflicht ermöglicht werden. Sowohl Arbeitsentgelt als auch Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit oder freiem Mitarbeiterverhältnis können angerechnet werden. Das BAG entschied, dass die Anrechnung der Gewinnbeteiligung grundsätzlich in Betracht komme. Ob die Klägerin den Anteil für ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin erhalten habe, sei offen. Die Beklagte habe nicht darlegen müssen, ob die Beteiligung mit der Tätigkeit im Zusammenhang stehe. Im Rahmen der sekundären Beweislast habe die Klägerin, die ohne weiteres Kenntnis von der vertraglichen Gestaltung habe, dies näher darlegen müssen; ihr pauschales Bestreiten genüge nicht. Dies habe das LAG nicht berücksichtigt.
  • Das BAG entschied zudem, das LAG habe den Einwand der Beklagten, die Klägerin habe böswillig anderweitigen Erwerb unterlassen (§ 11 Nr. 2 KSchG), zu Unrecht zurückgewiesen. Nach dieser Vorschrift muss sich ein Arbeitnehmer auch dasjenige anrechnen lassen, was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Böswillig handelt ein Arbeitnehmer, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Dazu zählt etwa auch, wenn sich der Arbeitnehmer vorsätzlich mit einer zu geringen Vergütung zufriedengibt. Eine Schädigungsabsicht verlangt das BAG (anders als das LAG) nicht. Zudem nahm das LAG aus Sicht des BAG fälschlicherweise an, die Klägerin habe sich mit ihrer unentgeltlichen Tätigkeit eine Existenz (vergleichbar mit einer selbständigen Tätigkeit) aufbauen wollen. Die Tätigkeit ist nach dem BAG mit einer selbständigen Tätigkeit nicht vergleichbar. Sie war zum Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit auch weder Gesellschafterin, noch war die GmbH & Co. KG bereits gegründet. Der Dienstvertrag mit der GmbH war jederzeit kündbar. Außerdem habe das LAG nicht aufgeklärt, ob und in welcher Höhe die Klägerin Unterhaltsleistungen erhalten habe, die von einem eigenen Verdienst abhingen. Das könne bei der Beurteilung der Böswilligkeit maßgeblich sein.
  • Richtigerweise berücksichtigte das LAG bei der Gesamtabwägung, dass sich die Klägerin nach § 38 SGB III arbeitssuchend gemeldet hat. Der Verstoß gegen diese sozialversicherungsrechtliche Verpflichtung ist nach dem BAG bei der Gesamtabwägung, ob ein Arbeitnehmer anderweitigen Verdienst böswillig unterlassen hat, zu berücksichtigen. Die Klägerin habe diese Pflicht erfüllt, gleichwohl keine adäquaten Stellenangebote erhalten. Die Beklagte habe (insoweit ist sie darlegungs- und beweisbelastet) keine für die Klägerin zumutbare Tätigkeit dargelegt, sondern nur behauptet, die Klägerin habe unschwer Arbeit finden können. Sie legte der Klägerin auch keine konkreten Stellenangebote vor. Der allgemeine Hinweis auf freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt reiche nicht aus.
  • Die Beklagte hatte ferner argumentiert, ihr sei die Annahme der Arbeitsleistung unzumutbar, da die Klägerin eine Konkurrenztätigkeit ausübe. Das BAG entschied, dass die Annahme der Arbeitsleistung der Beklagten nicht unzumutbar war. Ein Arbeitgeber komme ausnahmsweise nicht in Annahmeverzug, wenn ihm die Annahme der Arbeitsleistung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten des Arbeitslebens unzumutbar ist. Die Unzumutbarkeit beschränkt das BAG auf Ausnahmefälle (ungewöhnlich schwere Verstöße gegen allgemeinen Verhaltenspflichten). 

Gleiss Lutz kommentiert

Die Entscheidung des BAG ist im Wesentlichen eine Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechungslinie. Es ist zu begrüßen, dass das BAG die Darlegungs- und Beweislast im Prozess um den Annahmeverzugslohn betreffend die Anrechnung nicht einseitig auf die Arbeitgeber abwälzt, sondern die Arbeitnehmer in die Pflicht nimmt. Im vorliegenden Fall war es die Klägerin, die unschwer zu den vertraglichen Grundlagen der Gewinnbeteiligung hätte Angaben machen können, während der Beklagten diese Informationen nicht vorlagen. In der Praxis spielen bei der Anrechnung (böswillig unterlassenen) anderweitigen Verdiensts Auskunftsansprüche des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer eine entscheidende Rolle. Das BAG billigt grundsätzlich Ansprüche sowohl auf die durch die Arbeitsagentur unterbreiteten Vermittlungsvorschläge (etwa BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 387/19) als auch auf die Höhe eines etwaigen anderweitigen Verdiensts im maßgeblichen Zeitraum (BAG, Urteil vom 19. Juli 1978 – 5 AZR 748/77). Hier ist sorgsam zu prüfen, ob die Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Arbeitgeber können Handlungsdruck auf Arbeitnehmer ausüben, indem sie konkrete Stellenangebote vorlegen. Damit werden Arbeitnehmern Gelegenheiten zur Arbeit bekannt. Ist die Arbeit zumutbar und bleibt der Arbeitnehmer gleichwohl untätig, steigen die Chancen des Arbeitgebers, die „Böswilligkeit“ des Arbeitnehmers argumentieren und eine Anrechnung bewirken zu können. 

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