
Die Höhe von variablen Vergütungen hängt häufig vom Erreichen bestimmter Ziele ab, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einseitig vorgibt. Nach einer neuen Entscheidung des BAG (Urteil vom 19. Februar 2025 – 10 AZR 57/24) kann es Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers auslösen, wenn der Arbeitgeber gegen seine Pflicht verstößt, rechtzeitig Ziele vorzugeben.
Sachverhalt
Der Kläger war bei der Beklagten als Head of Advertising beschäftigt. Er übte in dieser Funktion Führungsverantwortung aus. Nach einer Betriebsvereinbarung hatte er Anspruch auf eine jährliche variable Vergütung, für deren Berechnung zu 70 % Unternehmensziele und zu 30 % individuelle Ziele maßgebend sein sollten. Die Zielvorgabe hatte spätestens bis zum 1. März eines jeden Kalenderjahres zu erfolgen. Für das Jahr 2019 traf die Beklagte bis zum 1. März keine Zielvorgaben. Sie legte erst Ende September 2019 für die individuellen Ziele aller Führungskräfte einen pauschalen Zielerreichungsgrad von 142 % fest. Dieser Wert entsprach dem durchschnittlichen Zielerreichungsgrad der individuellen Ziele aller Führungskräfte der Beklagten in den letzten drei Jahren. Mitte Oktober 2019 teilte die Beklagte dem Kläger konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen einschließlich deren Gewichtung und des Zielkorridors mit. Dabei zog sie für die Unternehmensziele einen pauschalen Zielerreichungsgrad von 37 % heran.
Entscheidung
Nach Ansicht des zehnten Senats war die Beklagte dazu verpflichtet, dem Kläger bis zum 1. März eines jeden Jahres Zielvorgaben mitzuteilen. Lege sie Ziele gar nicht oder so verspätet fest, dass eine nachträgliche Festlegung iSd. § 275 Abs. 1 BGB unmöglich werde, schulde sie dem Kläger Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 BGB. Bis zu welchem Zeitpunkt eine nicht rechtzeitig erfolgte Zielvorgabe nachgeholt werden könne, hänge von ihrem Sinn und Zweck ab. Die Nachholung einer Zielvorgabe werde unmöglich, wenn diese ihre Motivations-, Anreiz- und Steuerungsfunktion nicht mehr erfüllen könne. Jedenfalls nach Ablauf der Zielperiode werde eine nachträgliche Festlegung unmöglich. Nach diesen Maßstäben stehe dem Kläger ein Schadensersatzanspruch zu:
- Die Beklagte habe dem Kläger innerhalb der Zielperiode keine individuellen Ziele mitgeteilt und so ihre Pflichten verletzt. Die Betriebsvereinbarung biete keine Grundlage für die Festlegung eines pauschalen Zielerreichungsgrads statt der Festlegung individueller Ziele und der Messung der tatsächlichen Zielerreichung.
- Darüber hinaus habe die Beklagte ihre Pflichten verletzt, indem sie entgegen den Bestimmungen der Betriebsvereinbarung die Unternehmensziele für den Kläger nicht bis zum 1. März 2019 festgelegt habe. Eine Mitteilung der Zielvorgabe Mitte Oktober 2019 sei verspätet. Eine nachträgliche Festlegung sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen. Die relevante Zielperiode sei bereits zu drei Vierteln abgelaufen gewesen. Deshalb habe die Zielvorgabe ihren Zweck als Anreiz und Motivation des Klägers zu einer Leistungssteigerung nicht mehr erreichen können. Auch habe der Zielerreichungsgrad vom Kläger nur noch in geringem Umfang beeinflusst werden können.
- Für den Umfang des Schadensersatzanspruchs ermittelte das BAG den entgangenen Gewinn gemäß § 252 BGB durch eine Schätzung gemäß § 287 ZPO. Es sei grundsätzlich davon auszugehen, dass der Kläger bei einer rechtzeitigen Zielvorgabe die Ziele zu 100 % erreicht hätte, da die Beklagte verpflichtet gewesen sei, dem Kläger erreichbare Ziele vorzugeben. Einen hypothetisch höheren Zielerreichungsgrad habe der Arbeitnehmer, einen hypothetisch niedrigeren der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen. Danach sei für die individuellen Ziele des Klägers ein Zielerreichungsgrad von 142 % anzunehmen. Dieser Wert entspreche dem durchschnittlichen Zielerreichungsgrad der individuellen Ziele aller Führungskräfte in den letzten drei Jahren. Einen hypothetisch geringeren Zielerreichungsgrad habe die Beklagte nicht dargelegt. Für die Unternehmensziele setzte der Senat einen Zielerreichungsgrad von 100 % an. Umstände, aus denen geschlossen werden könne, dass auch bei einer rechtzeitigen Vorgabe der Ziele nur ein niedrigerer Zielerreichungsgrad erreicht worden wäre, seien nicht ersichtlich. Insbesondere sei unerheblich, dass der Kläger die Mitte Oktober 2019 verspätet vorgegebenen Unternehmensziele tatsächlich nicht erreicht habe, da diese aufgrund der verspäteten Mitteilung ihre Anreizwirkung nicht entfalten konnten. In den Vorjahren hatte der Kläger die Unternehmensziele übererfüllt.
Gleiss Lutz kommentiert
Das BAG nahm im letzten Jahr (Urteil vom 3. Juli 2024 – 10 AZR 171/23) bereits zu variablen Vergütungssystemen Stellung, die den Abschluss einer einvernehmlichen Zielvereinbarung vorsehen. Der zehnte Senat setzt seine damalige Rechtsprechung für einseitige Zielvorgaben konsequent fort. Arbeitgeber sind gut beraten, Ziele spätestens zu den in den einschlägigen Vereinbarungen vorgesehenen Zeitpunkten vorzugeben. Für die Praxis schwieriger zu beurteilen ist der rechtzeitige Zeitpunkt einer Zielvorgabe, wenn dieser in den relevanten Vereinbarungen nicht geregelt ist. Arbeitgeber sollten vor dem Hintergrund der Anreiz- und Motivationsfunktion variabler Vergütungssysteme die Ziele vor oder so früh wie möglich während der relevanten Zielperiode festlegen, um Schadensersatzansprüche der Arbeitnehmer zu vermeiden.
