Patentrecht

EPG-Report 05|25

Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court)

Das Einheitliche Patentgericht (EPG) hat sich rasch als beliebter Gerichtsstand in Europa etabliert. Der EPG-Report von Gleiss Lutz berichtet regelmäßig über diejenige EPG-Rechtsprechung, die für die Herausbildung des neuen einheitlichen Patentrechts und Patentprozessrechts in Europa am bedeutsamsten ist.

Der Monat Mai 2025 stand im Zeichen von Pharma. Das EPG hat sich erstmals mit second medical use claims befasst. Es hat die Anforderungen an die Erstbegehungsgefahr im Fall eines zukünftigen Vertriebs von Generika konkretisiert. Zudem hat das EPG die Präklusionsregeln im Nichtigkeitswiderklageverfahren weiter verschärft. 

Unser EPG-Report 05/25 behandelt folgende Themen:

 

Patentauslegung und Fachperson

Das Berufungsgericht hat klargestellt, dass die Auslegung von Patentansprüchen eine Rechtsfrage ist, die das Gericht nicht einem Sachverständigen überlassen kann; lediglich Anknüpfungstatsachen für das Verständnis der Fachperson seien einem Sachverständigengutachten zugänglich (Anordnung vom 30. April 2025 – UPC_CoA_768/2024 – Insulet ./. EOFlow). Die Grundlage der Patentauslegung sei das Verständnis der Fachperson von den Begrifflichkeiten des Patentanspruchs in dessen Gesamtzusammenhang unter Berücksichtigung der Beschreibung und Figuren. Ein von einer Partei vorgelegtes Sachverständigengutachten zum Verständnis der Fachperson von den Begrifflichkeiten des Patentanspruchs binde das Gericht nicht. 

Die Fachperson sei eine fiktive Person („entity“), die das allgemeine Fachwissen sowie die durchschnittlichen Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten auf dem maßgeblichen technischen Gebiet repräsentiere (im Gegensatz zu den individuellen Kenntnissen des Parteigutachters). Diese zu bestimmen sei als Rechtsfrage Aufgabe des Gerichts. Auf die Sicht eines Sachverständigen könne es allenfalls dann ankommen, wenn in diesem Rahmen bestimmte Tatsachen zu klären sind.

 

In der Regel keine neuen Nichtigkeitsangriffe erst in der Replik

Mit der Replik zur Nichtigkeitswiderklage erstmals vorgebrachte Nichtigkeitsangriffe sollen nach Ansicht der Lokalkammer Düsseldorf nur ausnahmsweise zuzulassen sein (Entscheidung vom 8. Mai 2025 – UPC_CFI_11/2024 – Grundfos ./. Hefei). Ein neuer Nichtigkeitsangriff sei eine Klageerweiterung. Eine solche sei nach R. 263 VerfO nur zuzulassen, wenn begründet werden kann, dass (i) der neue Nichtigkeitsangriff nicht schon mit der Nichtigkeitswiderklage erfolgen konnte und (ii) die Zulassung des neuen Nichtigkeitsangriffs den Nichtigkeitsbeklagten nicht unangemessen in seiner Verfahrensführung beeinträchtigt.

Dieser Grundsatz gilt nach der Lokalkammer Düsseldorf nicht nur, wenn mit der Replik zur Nichtigkeitswiderklage neuer Stand der Technik in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand eines neuen Nichtigkeitsangriffs gemacht wird (so auch schon zuvor Lokalkammer München, Entscheidung vom 13. September 2024 – UPC_CFI_390/2023 – Koninklijke Philips ./. Edrich), sondern auch dann, wenn der neue Nichtigkeitsangriff auf eine neue Kombination von schon in der Nichtigkeitswiderklage diskutiertem Stand der Technik gestützt wird. Im entschiedenen Fall hatte der Nichtigkeitskläger zunächst mangelnde Neuheit gegenüber einem Dokument A geltend gemacht. Dokument B hatte der Nichtigkeitskläger in anderem Zusammenhang diskutiert. In der Replik stützte sich der Nichtigkeitskläger dann hilfsweise auf eine Kombination der Dokumente A und B. Die Lokalkammer Düsseldorf entschied, auch in diesem Fall handle es sich um eine Klageerweiterung, die nur unter den strengen Voraussetzungen der R. 263 VerfO zuzulassen sei.

Es erscheint zweifelhaft, dass das Berufungsgericht diese sehr strenge Sichtweise teilen wird, nachdem es schon entschieden hat, dass nicht jedes neue Argument eine Klageänderung nach R. 263 VerfO ist (Entscheidung vom 21. November 2024 – UPC_CoA_456/2024 – OrthoApnea ./. n/a). Es ist zwar zuzugeben, dass eine Änderung des Prozessstoffs dem „front-loaded approach“ des EPG-Verfahrens zuwiderlaufen kann. Dieser Grundsatz dient aber keinem Selbstzweck, sondern der Prozessökonomie. Prozessökonomisch ist es aber auch nicht sinnvoll, den Nichtigkeitskläger zu zwingen, auf Basis des nicht berücksichtigten Nichtigkeitsangriffs eine neue, separate Nichtigkeitsklage zu erheben.

 

Verletzung von second medical use claims

Das EPG hat sich erstmals mit der Verletzung eines Patentanspruchs befasst, dessen Gegenstand eine zweite (oder weitere) medizinische Indikation eines Arzneimittels ist (Entscheidung vom 13. Mai 2025 – UPC_CFI_505/2024 – Sanofi ./. Amgen). Es handele sich seiner Natur nach um einen zweckgebundenen Erzeugnisanspruch, der aufgrund der Zweckbeschränkung keinen „absoluten“ Schutz, also einen Schutz unabhängig von der (beabsichtigten) Verwendung, gewährt. Das EPGÜ enthält keine ausdrückliche Regelung zur Verletzung eines solchen Patentanspruchs.

Damit das EPG die Verletzung eines zweckgebundenen Erzeugnisanspruchs feststellen kann, müsse der Kläger beweisen, dass das angegriffene Produkt das „Verwendungsmerkmal“ des Anspruchs erfüllt. Eine Verletzung liege jedoch nicht nur dann vor, wenn ein Arzneimittel tatsächlich für die unter Schutz gestellte Indikation benutzt wird. Vielmehr reiche es aus, dass das Arzneimittel so vermarktet wird, dass es zu der unter Schutz gestellten Verwendung kommt oder kommen kann und der Anbieter dies wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen. Packungsbeilage und SmPC könnten hierzu entscheidende Anhaltspunkte enthalten.

Welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit ein Verhalten diese Voraussetzungen erfüllt, könne nicht abstrakt formuliert werden, sondern sei eine Frage des Einzelfalls, für deren Beantwortung alle Tatsachen und Umstände zu berücksichtigen seien. Zu den relevanten Tatsachen könnten gehören: (i) der Umfang und die Bedeutung der beanstandeten Verwendung, (ii) der relevante Markt und die Gepflogenheiten auf diesem Markt, und (iii) die Maßnahmen, die der Anbieter oder Vermarkter getroffen hat, um den fraglichen Markt zu beeinflussen, entweder (a) „positiv“, indem er die beanspruchte Verwendung gefördert hat, oder (b) „negativ“, indem er Maßnahmen ergriffen hat, um die beanspruchte Verwendung zu verhindern. Die vom EPG abstrakt formulierten Kriterien eröffnen dem Gericht einen weiten Beurteilungsspielraum. Im konkreten Fall sah das EPG den vom Kläger behaupteten off-label use als unwahrscheinlich an.

 

Anforderungen an Erstbegehungsgefahr bei Generika

Zur Bejahung einer unmittelbar drohenden Patentverletzung durch die Vermarktung eines Generikums verlangt die Lokalkammer Lissabon konkrete Anhaltspunkte für einen Launch des Generikums während des noch bestehenden Patentschutzes (Entscheidung vom 8. Mai 2025 – UPC_CFI_41/2025 – Boehringer Ingelheim ./. Zentiva). Weder eine Marktzulassung noch eine Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit durch das portugiesische Gesundheitssystem seien ausreichende Anhaltspunkte für eine unmittelbar bevorstehenden Launch. Mit seiner Entscheidung knüpft die Lokalkammer Lissabon an die Entscheidung der Lokalkammer Düsseldorf an, die eine unmittelbar bevorstehende Patentverletzung durch ein Generikum jedenfalls verneint, wenn der Generikahersteller nicht an Rabattvertragsausschreibungen teilnimmt, keine Preisverhandlungen in einem EPGÜ-Vertragsmitgliedsstaat gestartet und auch ansonsten keine Angebotshandlungen vorgenommen hat (Entscheidung vom 6. September 2024 – UPC_CFI_165/2024 – Novartis ./. Genentech, s. dazu EPG-Report 10|24).

 

Kein Bestreiten mit Nichtwissen

Die Lokalkammer Düsseldorf hat entschieden, dass das im deutschen Zivilprozess mögliche Bestreiten mit Nichtwissen (§ 138 Abs. 4 ZPO) im Verfahren vor dem EPG prinzipiell unbeachtlich sei (Entscheidung vom 13. Mai 2025 – UPC_CFI_505/2024 – Sanofi ./. Amgen). Die Verfahrensordnung des EPG (R. 171.2 VerfO) sehe ein Bestreiten mit Nichtwissen nicht vor, sondern verlange ein „konkretes“ Bestreiten. 

Die Sichtweise der Lokalkammer erscheint unnötig streng. R. 171.2 VerfO formuliert einen Dispens von der Pflicht zum Beweisangebot und Beweisvorlage (R. 171.1 und 172 VerfO). Demgegenüber erfordert R. 24 lit. (e) VerfO für die Klageerwiderung nur, dass sie ggf. das Bestreiten der vom Kläger vorgetragenen Tatsachen umfasst. Aus der vom EPG bemühten R. 171.2 lässt sich nur das Erfordernis ableiten, dass sich dieses Bestreiten auf eine konkrete Tatsachenbehauptung beziehen muss. Sofern die Erklärung mit Nichtwissen sich auf eine konkrete Tatsache bezieht, kann sie prozessual als konkretes (einfaches) Bestreiten gewertet werden, das jedenfalls in Bezug auf solche Tatsachen als erheblich angesehen werden sollte, die sich der Überprüfung durch die bestreitende Partei entziehen. Es bleibt abzuwarten, wie das Berufungsgericht sich zur Frage des wirksamen Bestreitens positionieren wird.

 

Zulässigkeit kombinierter Hilfsanträge

Mit Verfahrensanordnung vom 28. April 2025 hat die Lokalkammer Hamburg den Spielraum der Klägerseite bei der Verteidigung von Hilfsanträgen gestärkt (Anordnung vom 28. April 2025 - UPC_CFI_424/2024 – Nera Innovations ./. Xiaomi). Die Kammer stellte klar, dass die nach Regel 30.1(b) VerfO erforderliche Erläuterung eines Hilfsantrags bereits dann als erfüllt gelten kann, wenn sich der Kläger auf zuvor hinreichend erläuterte Hilfsanträge bezieht. Dies gilt insbesondere dann, wenn die neuen Hilfsanträge eine Kombination solcher bereits erläuterten Anträge sind und die Kombination der Merkmale nachvollziehbar dargestellt wird. Eine strukturierte Bezugnahme – etwa in Form einer tabellarischen Darstellung der Merkmalskombinationen – erachtete die Kammer in diesem Zusammenhang zu Recht als ausreichend.

 

Widerklage stets gegen das Patent in seiner Gesamtheit zulässig

Die Lokalkammer Hamburg hat festgestellt, dass eine Widerklage auf Nichtigerklärung auch solche Patentansprüche umfassen kann, die im Rahmen der Verletzungsklage nicht geltend gemacht wurden (Urteil vom 30. April 2025 – UPC_CFI_278/2023 – AGFA ./. Gucci). Es ist daher zulässig, das gesamte Streitpatent anzugreifen, selbst wenn sich die Verletzungsklage nur auf einzelne Ansprüche stützt. Eine Widerklage auf Nichtigerklärung muss nicht auf die dem Verletzungsstreit zugrundliegenden Ansprüche beschränkt werden (Art. 32 Abs. 1 lit. e EPGÜ, Art. 65 Abs. 1 EPGÜ). Der Beklagte im Verletzungsverfahren darf während des laufenden Verletzungsverfahrens keine isolierte Nichtigkeitsklage bei der Zentralkammer erheben (Art. 33 Abs. 4 EPGÜ). Die umfassende Widerklage ist daher zum Zwecke der gebotenen effektiven Rechtsverteidigung erforderlich.

 

Grenzen der Berücksichtigung der Beschreibung für Zwecke der Patentauslegung

Im Hinblick auf die Patentauslegung hat die Lokalkammer Hamburg das Primat des Patentanspruchs dahingehend betont, dass widersprüchliche oder weiter gefasste Passagen der Beschreibung, die über den Anspruchswortlaut hinausgehen, für die Auslegung unbeachtlich seien (Urteil vom 30. April 2025 – UPC_CFI_278/2023 – AGFA ./. Gucci). Dies gelte vor allem dann, wenn die Beschreibung Merkmale betrifft, die der Anmelder im Erteilungsverfahren bewusst aus dem Anspruch entfernt hat – etwa zur Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik oder infolge von Beanstandungen der Prüfstelle. In solchen Fällen können diese Beschreibungsteile nicht herangezogen werden, um nachträglich eine breitere Interpretation des Anspruchswortlauts zu stützen oder ein zuvor ausgeschlossenes Merkmal wieder in den Schutzbereich einzubeziehen. Die Entscheidung liegt auf der Linie des Berufungsgerichts, wonach Beschreibung und Abbildungen als Auslegungshilfe heranzuziehen sind, jedoch nur soweit sie mit dem Patentanspruch konsistent sind (u.a. UPC_CoA_335/2023 – 10X Genomics).

 

Nur eine strafbewehrte Unterlassungserklärung räumt die Gefahr einer Patentverletzung aus

Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass sich aus einer vorangegangenen Patentverletzung die Gefahr einer Fortsetzung dieser Verletzung ergebe, sofern der Verletzer diese nicht durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung ausgeräumt hat (Anordnung vom 30. April 2025 – UPC_CoA_768/2024 – Insulet ./. EOFlow). Das Berufungsgericht übernimmt damit das aus dem nationalen deutschen Recht bekannte Instrument einer strafbewehrten Unterlassungserklärung – wenngleich in knappen Worten und ohne nähere Erläuterung.

 

Kosten zu Lasten des Antragstellers bei Erledigung des Verfügungsantrags wegen Zeitablauf

Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat der Antragsteller die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu tragen, wenn er den Verfügungsantrag zurücknimmt, weil er sich aus Sicht des Antragstellers mit Ablauf eines sportlichen Großereignisses (UEFA EURO 2024) erledigt hat (Anordnung vom 12 Mai 2025 – UPC_CoA_328/2024 - Ballino ./. Kinexon, UEFA).

Als entscheidend für die Kostentragungspflicht (Art. 69 Abs. 1 EPÜ) erachtete das Berufungsgericht, dass ein Verfügungsantrag, dessen Dringlichkeit in erster Linie mit einer behaupteten Patentverletzung im Rahmen eines einzelnen Ereignisses – z.B. einer Messe oder eines Sportereignisses – begründet wurde, ein prozessimmanentes Erledigungsrisiko in sich trage. Wenn sich dieses Risiko realisiert, habe der Antragsteller die Kosten zu tragen. Eine andere Kostentragung könne aus Billigkeitsgründen geboten sein, wenn die Antragsrücknahme infolge anderer, unvorhersehbarer Umstände erfolgte und sich somit nicht das spezifische Prozessrisiko verwirklicht.

Das Berufungsgericht wies darauf hin, dass sich ein Verfügungsantrag nur ausnahmsweise mit Ablauf eines spezifischen Ereignisses vollständig erledigte. Üblicherweise werde eine Verletzungsform nicht nur im Rahmen eines einzigen Ereignisses genutzt, sondern verbesserte die Präsentation bei dem Ereignis die Kommerzialisierung des Produkts. Aufgrund des Vortrags des Antragstellers nahm das Berufungsgericht jedoch an, dass mit Verstreichen des Termins der Verfügungsgrund entfallen sei. Bei einer weniger starken Fokussierung des Antragstellers auf das Sportereignis wäre die Kostenentscheidung möglicherweise anders ausgefallen. 

 

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