Land of Confusion – Das Brexit-Chaos geht weiter …

Als die englische Rockband Genesis im Jahr 1986 in ihrem Lied „Land of Confusion“ über „the men of steel, the men of power – are losing control by the hour“ sangen, hatten sie wohl kaum die heutigen Geschehnisse rund um den Brexit im Sinn. Gleichwohl lieferten sie unbeabsichtigt eine treffende Zusammenfassung der letzten Ereignisse in London:

Nachdem das Britische Parlament der von Unterhändlern Großbritanniens und der Europäischen Union („EU“) ausgehandelten geänderten Version des Austrittsabkommens am 19. Oktober 2019 zwar grundsätzlich zugestimmt, den von Premierminister Boris Johnson im Weiteren angestrebten (straffen) Zeitplan bezüglich seiner Ratifizierung jedoch abgelehnt hatte, ersuchte dieser die EU um einen Aufschub für den Brexit. Diesen Aufschub gewährte die EU und legte das neue Austrittsdatum auf den 31. Januar 2020 fest. Daraufhin ließ Boris Johnson verlauten, dass er Neuwahlen für das Parlament für Anfang Dezember 2020 ansetzen wolle. Nach anfänglicher Ablehnung hat die Labour-Partei nun ihre Unterstützung dieser Vorgehensweise erklärt.

Ob dieses Prozedere nun die erhoffte rasche Klarheit für den Brexit bringt, ist jedoch zweifelhaft. Der „Limbo state“ um den britischen Austritt wird die Unternehmen wohl noch einige Zeit weiter begleiten.

Die aktuelle Version des Austrittsabkommens

Das in der Presse häufig als „neuer Vertrag“ beschriebene Brexit-Abkommen basiert auf dem bereits am 14. November 2018 zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelten Brexit-Abkommen, welches nun punktuelle Änderungen erfahren hat, die vor allem Nordirland betreffen. Dementsprechend bleibt die Mehrzahl der Regelungen des ursprünglich ausgehandelten Brexit-Abkommen erhalten.

Dieses „Divorce-Agreement“ adressiert jedoch (weiterhin) nur den Austritt an sich und legt hierfür eine Übergangsfrist fest. Die Ausgestaltung ihrer zukünftigen Beziehung selbst soll von den Parteien erst während der Übergangsfrist vereinbart werden.

Was sind wesentliche Änderungen?

Die wohl prominenteste Änderung betrifft den Status von Nordirland. Die von Großbritannien als untragbar proklamierte „Back-Stop-Lösung“ wurde gestrichen und durch eine (bis dahin ebenfalls als undenkbar geltende) weitestgehende Einbeziehung Nordirlands in den Binnenmarkt unter Anwendung der Unionsregeln ersetzt. Die Grenze des Europäischen Binnenmarkts verläuft dementsprechend zwischen Nordirland und Schottland. Dies ist überraschend, denn die britische Seite hatte eine solche „border in the Irish sea“ stets im Hinblick auf die Integrität des Vereinigten Königreichs kategorisch ausgeschlossen. Dies zeigt wieder einmal, dass die Regierung von Premierminister Johnson für Überraschungen gut ist und nur wenig Prinzipientreue kennt. Weiterhin einigten die Parteien sich darauf, einen neuen Zustimmungsmechanismus zu schaffen, der den Mitgliedern der parlamentarischen Versammlung für Nordirland eine Stimme bei der langfristigen Anwendung des einschlägigen EU-Rechts in Nordirland verleiht. Wie dieser Zustimmungsmechanismus ausgestaltet sein wird und welches Gewicht diese Stimme trägt, bleibt jedoch – wie so vieles – abzuwarten.

Darüber hinaus einigten sich Großbritannien und die EU auf ein „dual custom system“, wonach Nordirland Teil des britischen Zollgebiets bleiben wird – gleichzeitig jedoch Zollkontrollen gemäß den Unionsregeln im Hinblick auf aus Großbritannien eintreffende Waren durchführen wird. Dadurch werden Zollkontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland, von denen man eine Störung des Friedensprozesses auf der Insel befürchtete, vermieden.

Was bleibt?

Alle anderen Teile des am 14. November 2018 vereinbarten Brexit-Abkommens bleiben inhaltlich unverändert. Dies gilt insbesondere für

  • Übergangsphase: Sollte es zum 31. Januar 2020 zum Austritt kommen, ändert sich zunächst recht wenig.  Bis zum 31. Dezember 2020 bleibt Großbritannien an sämtliche EU-Verträge gebunden und bleibt insbesondere auch Teil des Binnenmarktes und der Zollunion. Das gesamte EU-Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, etc.) gilt im Vereinigten Königreich erst einmal weiter – übrigens auch dann, wenn es erst im Jahre 2020 erlassen wird. Dies ist gut für Unternehmen und Bürger auf beiden Seiten des Kanals, die nun erst einmal Rechtssicherheit haben. Gleichwohl verliert Großbritannien mit dem Austritt den EU-Mitgliedsstatus und ist dementsprechend von sämtlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Die Übergangsphase von einem knappen Jahr soll von den Parteien genutzt werden, um die Ausgestaltung ihrer zukünftigen Beziehungen zu vereinbaren.
  • Gerichtsbarkeit des EuGH: Laufende Gerichtsverfahren und solche, die vor Ablauf der Übergangsphase von/gegen Großbritannien angestrengt werden, unterfallen weiterhin der Jurisdiktion des EuGH. Entscheidungen, die der EuGH vor Ablauf der Übergangsphase treffen würde, blieben für Großbritannien bindend und im gesamten Vereinigten Königreich durchsetzbar/vollstreckbar.
  • Binnenmarkt/Zollunion: Sofern eine Vereinbarung über die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien nicht bis zum Ende der Übergangsphase erzielt worden ist, scheidet Großbritannien grundsätzlich sowohl aus dem Binnenmarkt als auch aus der Zollunion aus. Es erhält dann den Status eines Drittstaats (die in der ursprünglichen Version des Austrittsabkommens vorgenommene „Back-Stop-Lösung“, wonach Großbritannien auch nach Ablauf der Übergangsfrist Mitglied der Zollunion geblieben wäre, sofern keine anderweitige Regelung für die Beziehung der Parteien vereinbart worden wäre, ist in der geänderten Version des Austrittsabkommens nicht mehr vorgesehen). Das wäre im Ergebnis ein „hard Brexit“.
  • Personenfreizügigkeit: Weiterhin enthält das Austrittsabkommen eine Zusicherung für alle EU-Bürger, die in Großbritannien leben, sowie für alle Briten, die in einem EU-Mitgliedsstaat leben, dass ihr Recht auf Aufenthalt, Erwerbstätigkeit, Studium und Familiennachzug auch nach Ablauf der Übergangsfrist bestehen bleibt. Stichtag ist insoweit der 31. Dezember 2020 (d. h. das Ende der Übergangsphase).
  • Wettbewerbsrecht: Das Austrittsabkommen enthält zudem Übergangsregeln für wettbewerbsrechtliche Fälle. Sofern z. B. ein Zusammenschluss die Schwellenwerte der EU-Fusionskontrollverordnung übersteigt, läge die Zuständigkeit für Fusionskontrollfälle ausschließlich bei der Kommission. Ansonsten wäre die UK Competition & Markets Authority (CMA) zuständig (und ggf. andere Kartellbehörden der Mitgliedstaaten). Die Durchführung der Beihilfenkontrolle obliegt weiterhin der Kommission, d. h. offene bzw. laufende Verfahren würden weiterhin nach den EU-Wettbewerbsregeln beurteilt werden. Ebenso unterliegen Beihilfefälle, die vor dem Ende der Übergangsphase eröffnet werden, weiterhin der Zuständigkeit der Kommission.

Das Wichtigste bleibt offen

Anders als in der Presse suggeriert, wäre der Brexit mit dem Austritt Großbritanniens zum Ende Januar 2020 (selbst wenn das Britische Parlament und die EU der geänderten Version des Austrittsabkommens zustimmen) nicht „done“. Zwar bleibt während der Übergangsphase, in der Großbritannien den Stand eines „Mitgliedsstaats ohne Stimmrecht“ einnimmt, der Status quo nahezu erhalten. Die Folgen des Brexit werden somit auf den Zeitpunkt nach Ablauf der Übergangsfrist verschoben. Die wohl wichtigste Frage, welche die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehung zwischen Großbritannien und der EU nach Ablauf der Übergangsphase betrifft, bleibt jedoch nach wie vor offen.

Die politische Erklärung, welche ebenfalls eine Überarbeitung erfahren hat, enthält zwar die Absicht Großbritanniens zukünftige Beziehungen mit der EU nach dem Modell eines Freihandelsabkommens zu gestalten. Dabei sieht die politische Erklärung ein ehrgeiziges Freihandelsabkommen ohne Zölle und Quoten zwischen der EU und Großbritannien vor. Voraussetzung dafür wäre jedoch aus Sicht der EU die Zusage von gleichen Wettbewerbsbedingungen („level playing field“) innerhalb der EU und Großbritannien. Obwohl die genaue Art der Verpflichtung im Rahmen des vorgesehenen Freihandelsabkommen noch verhandelt werden müssen, hat Premierminister Boris Johnson schon jetzt durchblicken lassen, dass er wenig geneigt ist, sich zukünftig eng an die Unionsvorschriften zu halten. Diese Aussage hat eine maßgebliche Bedeutung für z. B. Regelungen betreffend regulatorischen Gleichlauf bzw. Mindeststandards (Verbraucherschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte), die Gewährung von Beihilfen und den Erhalt der Grundfreiheiten, welche aus Sicht der EU ein „Komplettpaket“ und keine „Möglichkeit zum Rosinenpicken“ darstellen. Es ist also offensichtlich, dass der Weg zu einem Freihandelsabkommen zu vielen groß- und kleinteiligen Detailfragen führt, auf die von der EU und Großbritannien eine gemeinsame Antwort gefunden werden muss.

Ob die Übergangsphase, die nunmehr bei angepeilten Austritt spätestens zum 31. Januar 2020 auf elf Monate zusammengeschrumpft ist, einen hinreichenden Zeitrahmen für die Umsetzung dieses Vorhabens bietet, scheint nach Einschätzung aller ernsthaften Beobachter sehr fraglich.

Sofern nach Ablauf der Übergangsphase kein Freihandelsabkommen verhandelt wurde, könnte die Übergangsfrist einmal um bis zu höchstens zwei Jahre verlängert werden. Eine Verlängerung kann jeweils bis zum 1. Juli 2020 von dem Joint Committee entschieden bzw. von Großbritannien beantragt werden, wobei im Rahmen dessen weitere Kosten auf Großbritannien zukommen würden.

In jedem Fall gilt: Sollten die EU und Großbritannien sich vor Ablauf der (ggf. verlängerten) Übergangsfrist nicht auf eine Ausgestaltung ihrer Beziehung (höchstwahrscheinlich das Freihandelsabkommen) einigen können, käme es wiederum zu einem ungeordneten Brexit (lediglich zu einem späteren Zeitpunkt als ursprünglich befürchtet).

Fazit – Was gilt für die Unternehmen?

Wie bereits in unseren letzten Newslettern dargestellt (siehe www.gleisslutz-brexit.com) ist es auch hier schwierig, konkrete Empfehlungen auszusprechen. Im Hinblick auf die anhaltenden Diskussionen in Großbritannien scheint leider immer noch nahezu jedes Szenario (d. h. Ratifizierung des Brexit-Abkommens, harter Brexit am 31. Januar 2020 oder erneute Verschiebung des Austrittsdatums) möglich. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die anstehenden Neuwahlen, die die Mehrheitsverhältnisse im Britischen Parlament und damit sämtliche Karten noch einmal völlig neu verteilen könnten.

Unternehmen können sich also auch weiterhin nicht zurücklehnen, vor allem im Hinblick darauf, dass selbst bei einer Ratifizierung des Brexit-Abkommens die Aushandlung eines Freihandelsabkommens in der nunmehr sehr knapp bemessenen Übergangsphase fraglich scheint.

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