Öffentliches Recht

Der Koalitionsvertrag 2018 – Verfassung, Verwaltung und Umwelt

Verfassungsrechtliche Inhalte des Koalitionsvertrages

Der Koalitionsvertrag sieht in verschiedener Hinsicht Verfassungsänderungen bzw. auch verfassungsrechtlich problematische Regelungen vor:

  • Die wichtigste Verfassungsänderung betrifft das Bildungswesen. Unter der Überschrift „Offensive für Bildung, Forschung und Digitalisierung“ (Tz 1120 ff.) soll das für den Bildungsbereich bisher geltende Kooperationsverbot von Bund und Ländern weitgehend aufgegeben werden – zu Gunsten des Bundes und seiner finanziellen Möglichkeiten. Die hier geplanten Änderungen erinnern an frühere Verfassungsänderungen oder Verfassungsdurchbrechungen unter dem Stichwort der sog. „Angebotsdiktatur des Bundes“.

    Für den Bereich der allgemeinen Bildung und der Schulen soll Art. 104c GG zu Gunsten von Bundeszuweisungen für das Schulwesen geändert werden. Es heißt zwar, dass „die Kultushoheit Kompetenz der Länder bleibt“. Das Schulwesen wird insgesamt aber grundlegenden Veränderungen eröffnet: Vom Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Kinder im Grundschulalter über Investitionen für Ganztagsschulen und Betreuungsangebote bis hin zu einheitlichen Regelungen für die Qualifikation von Lehrkräften, für Bildungs- und Lehrpläne aller Bildungsgänge bis hin zur sog. „Investitionsoffensive Schule“. Auch die berufliche Bildung und Weiterbildung soll modernisiert werden – wiederum über eine Verfassungsänderung im Rahmen des Art. 104c GG. Die Berufsorientierung im Zusammenwirken von Bund und Ländern soll an den allgemeinbildenden Schulen der Sekundärstufe weiter gestärkt werden, auch an allen Gymnasien. Wesentliche Änderungen befinden sich auch im Bereich des BAföG.

    Dies alles wird wesentliche Auswirkungen auch für die Wirtschaft bzw. die Unternehmen haben. Wichtig ist deshalb vor allem, dass die Wirtschaft bzw. die Unternehmen an den vorgesehenen Maßnahmen im Einzelnen gebührend beteiligt werden. Ob und inwieweit solche Beteiligungen oder Beteiligungsrechte vorgesehen sind, lässt sich aus dem bisherigen Text des Koalitionsvertrages allerdings nicht entnehmen. Hier ist besondere Aufmerksamkeit geboten.
     
  • Verfassungsrechtlich vorgesehen ist die Einführung von Kinderrechten im Grundgesetz (Tz. 322). Ungeachtet der bisherigen, überwiegend kritisch geführten Diskussion gegenüber solchen Kinderrechten (mangelnde Vereinbarkeit mit den bisherigen Regelungen in Art. 6 und Art. 7 GG) sollen solche Kinderrechte eingeführt werden. Ob sich hieraus für Unternehmen oder Wirtschaft Konsequenzen ergeben, ist derzeit nicht abzusehen.
     
  • Verfassungsrechtlich relevant sind die vorgesehenen Neuregelungen im Bereich des Mietrechts (Tz. 5089 ff., 5214 ff.). Es geht um die Garantie für bezahlbare Mieten vor allem über die Dämpfung des Mietanstiegs, u.a. durch Verlängerung des Bindungszeitraums des qualifizierten Mietspiegels, über die Absenkung der Modernisierungsumlage auf 8 %, die Anpassung des Wohngeldes an individuelle Lebensbedingungen und die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen bei Modernisierungsmaßnahmen. Die verfassungsrechtliche Problematik dieser Regelungen liegt bei den Rechten des Vermieters bzw. bei dessen Rechten aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG.

    Der Bund will auch in Zukunft gemeinsam mit den Ländern Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung übernehmen. Falls erforderlich, so heißt es in Tz. 5143, soll hierzu sogar eine Grundgesetzänderung vorgenommen werden.

    Die weitere Entwicklung wird gerade aus verfassungsrechtlicher Sicht besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die Grundtendenz geht eindeutig dahin, Eigentumsrechte von Vermietern weiter einzuschränken (mangelnde Rentabilität, mangelnde Investitionsfähigkeit etc.).
     
  • Aus Sicht des Verfassungsrechts zu bewerten ist auch die geplante Regelung zum Solidaritätszuschlag. Dieser soll für kleinere und mittlere Einkommen abgesenkt werden (Tz. 385 ff., 2424 ff.). Abgesehen davon, dass mit der Beibehaltung des Solidaritätsbeitrages im Übrigen dessen ursprüngliche Zwecksetzung (Aufbau Ost) nach wie vor missbräuchlich zur Geltung gebracht wird, stellen sich gegenüber der jetzt geplanten Regelung verfassungsrechtliche Fragen aus der Sicht des allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG (systemwidrige Belastung der Steuerzahler?).
     
  • Von größter verfassungsrechtlicher Bedeutung bleibt auch die Migrationspolitik. Unter dem Stichwort „Zuwanderung steuern – Integration fordern und unterstützen“ (Tz. 4780 ff.) soll die Flüchtlingspolitik auf der einen Seite Begrenzungen der Zuwanderung anerkennen („Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000“) und soll andererseits der Familiennachzug für sekundär Aufnahmeberechtigte auf monatlich 1.000 zuzüglich Härtefälle begrenzt werden. Dies offenbart nach wie vor bestehende hohe Rechtsunsicherheit – in verfassungs- wie europarechtlicher Hinsicht.
     
  • Verfassungsrechtliche Fragen werfen schließlich auch die Neuregelungen zu befristeten Arbeitsverhältnissen auf (Tz. 2341 ff.). Der Tatbestand der „sachgrundlosen Befristung“ von Arbeitsverhältnissen, demzufolge solche Arbeitsverhältnisse nur noch für eineinhalb Jahre statthaft sein sollen, kann unter rechtsstaatlichen Aspekten Probleme aufwerfen. Im Einzelnen sind dies aber zunächst Fragen des Arbeitsrechts.

 

Verwaltung

  • Im Bereich des Verwaltungsrechts spielt nach der Koalitionsvereinbarung vor allem die Digitalisierung – mit Recht – eine besondere Rolle („Auf dem Weg in die digitale Verwaltung“ – Tz 2004). Andererseits ist schwer nachzuvollziehen, dass die ministeriellen Zuständigkeiten für den Digitalisierungsbereich auf mehrere Ministerien verteilt werden – ohne klare kompetenzielle Abgrenzungen.
     
  • Insgesamt trägt der Koalitionsvertrag eine deutliche Tendenz nicht zur Deregulierung, sondern zur verstärkten Regulierung – vom Wirtschaftsrecht über das Bildungsrecht, das Mietrecht, das Gesundheitsrecht, das Sozialrecht bis hin zum Recht der Infrastruktur. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass – ungeachtet des Bekenntnisses zur Sozialen Marktwirtschaft – nie vom „freien (Leistungs-)Wettbewerb“, sondern lediglich und ständig vom „fairen Wettbewerb“ als Schutzgut des Wirtschaftsrechts gesprochen wird. „Fairer Wettbewerb“ impliziert ganz deutlich die Zurücksetzung ökonomischer Autonomie zu Gunsten verstärkter staatlicher Kontrolle und Regulierung.
     
  • Positiv sind die Pläne für ein Planungs- und Baubeschleunigungsgesetz zu bewerten (Tz. 3408 ff.). Planungsbeschleunigungen sind in der Tat dringend notwendig, wobei der Koalitionsvertrag auf eine „Änderung der rechtlichen Vorgaben zugunsten von Erleichterungen für Infrastrukturprojekte“ abzielt. In die gleiche Richtung zielt die Absicht, „Genehmigungsverfahren zu beschleunigen“ (Tz. 5850 ff.). Es ist richtig, mit dieser Zielsetzung vor allem das Verwaltungsverfahrensrecht zu reformieren. Ob diese Ziele allerdings wirklich sehr effektiv erreicht werden können, bleibt angesichts der außerordentlichen Komplexität des materiellen Rechts, das längst und vielfach vom europäischen Recht überlagert oder präformiert wird, fraglich.

    Ebenso positiv zu bewerten ist die Absicht, die 1:1-Umsetzung von EU-Vorgaben nach Maßgabe des Prinzips „one-in-one-out“ zu realisieren (Tz. 2872 ff.).

    Im Rahmen eines Bürokratieabbaugesetzes III sollen – mit Recht – Statistikpflichten weiter verringert werden; das gleiche gilt für die Vereinheitlichung von Grenz- und Schwellenwerten in verschiedenen Rechtsbereichen (Tz. 2858 ff.).
     
  • Im Bereich der Justiz, die prinzipiell gestärkt werden soll, findet sich eine ganze Reihe von Neuregelungen, die (auch) für Unternehmen problematisch werden können:
    • Der Koalitionsvertrag legt vor allem auf den Verbraucherschutz großen Wert und will z.B. eine Musterfeststellungsklage einführen (Tz. 5791 ff.). Die Rechtsdurchsetzung und Schlichtung im Verbraucherschutz soll über die finanzielle Förderung der vorhandenen Marktwächter gestärkt werden. Das bewährte Abmahnrecht soll vor Missbrauch geschützt werden. Die Aufsicht über Inkassounternehmen etc. soll verbraucherfreundlich gestärkt werden (Tz. 5816 ff.)
    • Bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität soll das Sanktionsrecht für Unternehmen neu geregelt werden (Tz. 5896 ff.). Hier soll insbesondere eine Abkehr vom Opportunitätsprinzip im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts verfügt werden, um „eine bundesweit einheitliche Rechtsanwendung“ zu gewährleisten. Von besonderer Bedeutung ist, dass das Fehlverhalten von Mitarbeitern eines Unternehmens künftig nicht allein personell geahndet werden soll, sondern dass auch die Unternehmen selbst künftig zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Dabei sollen sich Geldsanktionen künftig an der Wirtschaftskraft der jeweils betroffenen Unternehmen orientieren. Bei diesen geplanten Neuregelungen droht ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit, dem es über adäquate Verfahrensregelungen zu begegnen gilt. Solche Verfahrensregelungen sind im Einzelnen jedoch – zumindest nach dem Koalitionsvertrag – (noch) nicht absehbar.

 

Umwelt (Tz 6479 ff.)

Zur Agenda Umweltschutz finden sich im Koalitionsvertrag zunächst allgemeinpolitische Absichtserklärungen zur europäischen und zur internationalen Umweltpolitik (Artenschutz, Meeresschutz, Plastikstrategie). Die Koalition möchte die deutsche EU-Präsidentschaft im Jahr 2020 nutzen, um das Ambitionsniveau des europäischen Umweltschutzes weiter zu steigern. Sie bekennt sich zum Vorsorgeprinzip. Im Bereich der umweltbezogenen Gesundheitsvorsorge sollen Regelungslücken der Chemikalienverordnung REACH geschlossen werden, die europäische Unternehmen benachteiligen.

Auf nationaler Ebene sollen die Strategie zur biologischen Vielfalt forciert und das Nationale Hochwasserschutzprogramm umgesetzt und gestärkt werden; zur Reduzierung von Gewässerverunreinigungen soll die Abwasserabgabenregelung weiterentwickelt werden.

Konkrete Vorhaben werden definiert für den Bereich ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft/Bodenschutz. Das Bekenntnis zu anspruchsvollen Recyclingquoten, Wettbewerb und Produktverantwortung, wie es für den Bereich des Verpackungsmülls auch dem Anfang 2019 in Kraft tretenden Verpackungsgesetz zugrunde liegt, wird in der Recycling- und Entsorgungsbranche auf Zustimmung stoßen. Die Hersteller und Vertreiber der Produkte sollen Langlebigkeit, Reparierbarkeit und Wiederverwendbarkeit stärker berücksichtigen. Hier setzt die Rechtsordnung bisher auf indirekte Steuerungsansätze durch weiche Instrumente, wie sie im Verpackungsgesetz etwa durch die Regelungen zur Bemessung der Entgelte für die Beteiligung an den dualen Entsorgungssystemen vorgesehen sind (§ 21 des Gesetzes). Allerdings sollen mögliche gesetzliche Pflichten zur Stärkung von Abfallvermeidung und Recycling und zur Verbesserung der Einsatzmöglichkeiten für recycelte Materialien (Altholz/Alttextilien/Altreifen) geprüft werden.

Die „unendliche Geschichte“ der Mantelverordnung für Ersatzbaustoffe und Bodenschutz will die Koalition fortschreiben. Auf diese Regelung, die einen bundeseinheitlichen und rechtsverbindlichen Rahmen für die Verwertung von mineralischen Abfällen schaffen soll, wartet die deutsche Baustoff-Recyclingwirtschaft seit Jahren. Die Koalitionsparteien stellen Öffnungsklauseln für eine Abweichungsgesetzgebung der Länder in Aussicht, um „bereits bestehende und bewährte länderspezifische Regelungen bei der Verfüllung von Gruben, Brüchen und Tagebauen gesetzlich abzusichern“. Damit soll offenbar auf die hohe Zahl bereits gestellter und noch zu erwartender Änderungsanträge der Bundesländer reagiert werden, die ihre traditionellen Leitfäden für die Verfüllung von Ersatzbaustoffen verteidigen. Die Wirtschaftsseite warnt vor massiven Stoffstromverschiebungen in Richtung Deponie, obwohl heute schon regionale Entsorgungsengpässe absehbar seien. Ob es der neuen Bundesregierung tatsächlich gelingen wird, den Knoten in den festgefahrenen Diskussionen zu lösen und eine Brücke zwischen den konkurrierenden Positionen zu schlagen, ist weiterhin ungewiss.

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