Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 11. September 2025 (C-38/24) klargestellt, dass Arbeitnehmer, die behinderte Kinder betreuen, auch vor mittelbarer Mitdiskriminierung geschützt sind. Soweit es Arbeitgebern zumutbar ist, müssen sie deshalb angemessene Vorkehrungen treffen, um eine solche Mitdiskriminierung von Betreuungspersonen zu verhindern.
Sachverhalt
Ausgangspunkt für die Entscheidung des EuGH war die Klage einer im Schichtdienst eingesetzten italienischen Arbeitnehmerin. Diese forderte von ihrem Arbeitgeber, sie dauerhaft an einem Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten einzusetzen, um sich um ihren schwerbehinderten, vollinvaliden minderjährigen Sohn kümmern zu können. Nachdem der Arbeitgeber eine dauerhafte Anpassung ihrer Arbeitszeiten ausgeschlossen hatte, blieb die Klägerin erst- und zweitinstanzlich erfolglos. Der italienische Kassationsgerichtshof setzte schließlich das Verfahren aus und legte dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV unter anderem die Frage vor, ob sich auch mittelbar benachteiligte Betreuungspersonen auf den Diskriminierungsschutz wegen einer Behinderung berufen können und ob der Arbeitgeber verpflichtet ist, zugunsten dieser Betreuungspersonen angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine Benachteiligung zu verhindern.
Entscheidung
Diese Vorlagefragen hat der EuGH im Wesentlichen bejaht und damit zugleich seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2008 (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2008, C-303/06 – Coleman) ausgebaut. In der Coleman-Entscheidung hatte der EuGH bestätigt, dass das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung nach der Richtlinie 2000/78/EG sich nicht auf behinderte Personen beschränkt, sondern auch die unmittelbare Mitdiskriminierung eines Elternteils umfasst. Diese Rechtsprechung hat der EuGH nunmehr wie folgt auf Fälle von mittelbarer Mitdiskriminierung erweitert:
- Das Diskriminierungsverbot umfasst auch mittelbare Mitdiskriminierungen von selbst nicht behinderten Personen. Auch eine Betreuungsperson (z. B. ein Elternteil), die am Arbeitsplatz wegen der Pflege eines behinderten Kindes benachteiligt wird, kann sich auf den Diskriminierungsschutz der Richtlinie 2000/78/EG berufen.
- Sofern der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird, ist er verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, die eine mittelbare Mitdiskriminierung von Betreuungspersonen verhindern – hierzu kann insbesondere die Anpassung der Arbeitszeit gehören.
Auswirkungen im deutschen Recht
In Umsetzung der Richtlinienvorgaben verbietet auch das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) eine mittelbare Benachteiligung wegen einer Behinderung, unter anderem in Bezug auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 2 AGG). Schon vor der Coleman-Entscheidung des EuGH war es in Deutschland einhellige Auffassung, dass davon grundsätzlich auch Mitdiskriminierungen umfasst werden. Angesichts der EuGH-Entscheidung vom 11. September 2025 steht außerdem fest, dass es nicht darauf ankommt, ob es sich um eine unmittelbare oder mittelbare Mitdiskriminierung handelt.
Gleiches gilt für die Ausübung des arbeitgeberseitigen Weisungsrechts. Zwar regelt § 106 S. 3 GewO insoweit nur, dass der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Ermessens auf „Behinderungen des Arbeitnehmers“ Rücksicht zu nehmen hat. Das vom EuGH in seiner Entscheidung konkretisierte Diskriminierungsverbot gilt in der deutschen Umsetzung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG allerdings insbesondere für „Maßnahmen bei der Durchführung eines Beschäftigungsverhältnisses“ und damit auch für die Ausübung des Direktionsrechts. Im Lichte des AGG umfasst § 106 S. 3 GewO mithin auch die Pflicht zur Rücksicht auf Betreuungspersonen.
Wer als Betreuungsperson zu qualifizieren ist, hat der EuGH nicht entschieden. Es bleibt also weiterhin unklar, wie eng die Verbindung zwischen dem benachteiligten Arbeitnehmer und der Person sein muss, die das betreffende Merkmal aufweist.
Welche Vorkehrungen der Arbeitgeber treffen muss, um eine Mitdiskriminierung zu vermeiden, ist eine Frage des Einzelfalls. Sämtliche Vorkehrungen setzen jedoch in einem ersten Schritt voraus, dass der Arbeitgeber über die konkreten Anforderungen informiert wird, die sich aus der Situation als Betreuungsperson ergeben. Konkrete Vorkehrungen können anschließend beispielsweise eine angepasste Homeoffice-Regelung, flexible Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten, der Verzicht auf die Anordnung von Überstunden oder die Gewährung unbezahlter Freistellungszeiträume sein.
Der Arbeitgeber muss dabei abwägen, welche Vorkehrungen angesichts der damit verbundenen wirtschaftlichen Belastung und der betrieblichen Gegebenheiten im Einzelfall angemessen sind. Werden zumutbare Vorkehrungen verweigert, kann der mitdiskriminierte Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber nicht nur auf Umsetzung der entsprechenden Vorkehrung in Anspruch nehmen, sondern von ihm zusätzlich auch Schadensersatz und Entschädigung gemäß § 15 Abs. 1 und 2 AGG verlangen.
Gleiss Lutz kommentiert
Mit der Entscheidung stärkt der EuGH die Position von Eltern behinderter Kinder. Aus Arbeitgebersicht bleibt es ein Balanceakt zu bewerten, welche Vorkehrungen im Einzelfall als unverhältnismäßig anzusehen sind. Insoweit sollte der Arbeitgeber den Dialog mit dem betroffenen Arbeitnehmer suchen und gegebenenfalls unter Hinzuziehung der Schwerbehindertenvertretung austarieren, wie eine Mitdiskriminierung vermieden und die Interessen aller Beteiligten gewahrt werden können.