Arbeitsrecht

Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch trotz Schwerbehinderung

Öffentliche Arbeitgeber sind verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber, sofern nicht offensichtlich ungeeignet, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Verstöße gegen diese Pflicht führen nicht direkt zu einem Entschädigungsanspruch gem. § 15 Abs. 2 AGG, begründen aber die widerlegbare Vermutung, dass der Bewerber wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde.

BAG, Urteil vom 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18

Sachverhalt

Der schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Kläger hatte sich per E-Mail auf die Stellenausschreibung eines Landes für den Gerichtsvollzieherdienst beworben. Auf seine Bewerbung hin, in der er ausdrücklich auf seine Gleichstellung hinwies, erhielt der Kläger eine Lesebestätigung vom Sachgebietsleiter der Verwaltung. Dieser Sachgebietsleiter war damit befasst, die eingehenden Bewerbungen darauf zu prüfen, ob eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch auszusprechen ist.

Der Kläger erhielt allerdings weder eine Absage noch eine Einladung, obwohl ihm die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle nicht offensichtlich fehlte. Er forderte das Land daraufhin auf, ihm wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung aufgrund einer Behinderung eine Entschädigung in Höhe einer dreifachen Monatsbesoldung zu zahlen.

Das beklagte Land lehnte den Anspruch ab. Zur Begründung führte es aus, es habe keine Kenntnis von der Bewerbung des Klägers nehmen können: Wegen eines schnell überlaufenden E-Mail-Postfachs und ungenauer Absprachen mit Mitarbeitenden sei die Bewerbung des Klägers nicht ausgedruckt und auch kein Vorgang angelegt worden. Vermutlich habe sich der Sachgebietsleiter einen Überblick über das Bewerberfeld verschaffen wollen und in diesem Zusammenhang die E-Mail geöffnet. Einmal geöffnete E-Mails würden automatisch als „gelesen“ markiert, weshalb die für die Erfassung zuständige Mitarbeiterin davon ausgegangen sei, die Bewerbung sei bereits erfasst worden. Die Bewerbung sei in der Folge anstatt ausgedruckt zu werden in den Ablageordner verschoben worden.

Mit seiner Klage verfolgte der Kläger den Anspruch weiter.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Nachdem das Arbeitsgericht Köln die Klage abgewiesen hatte, hat das Landesarbeitsgericht Köln der Klage teilweise stattgegeben. Die Revision des Landes hatte keinen Erfolg.

Der Bewerber hat wegen Nichtberücksichtigung im Stellenbesetzungsverfahren einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

Der Kläger ist Bewerber iSd. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Die Bestimmung enthält einen formalen Bewerberbegriff, wonach derjenige Bewerber ist, der eine Bewerbung eingereicht hat. Dafür genügt, dass die Bewerbung dem Arbeitgeber zugeht, d. h. dass sie in verkehrsüblicher Weise in seine tatsächliche Verfügungsgewalt gelangt und dass unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist unerheblich, ob der Empfänger aufgrund von individuellen Verhältnissen an einer Kenntnisnahme gehindert ist, solange unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht. Die tatsächliche Kenntnisnahme von einer Bewerbung sei schon wegen des Ziels des effektiven Schutzes vor Diskriminierungen nicht erforderlich.

Nach diesen Grundsätzen ist dem beklagten Land die Bewerbung des Klägers zugegangen, was auch bereits die Lesebestätigung belegt. Dass die Bewerbung nicht in den Geschäftsgang gegeben wurde, ändert daran nichts.

Durch die Nichteinladung des Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch hat das beklagte Land gegen seine Pflicht aus § 82 Satz 2 SGB IX a.F. (jetzt § 165 Satz 3 SGB IX) verstoßen. Das begründet die widerbare Vermutung, der Kläger werde wegen seiner Behinderung benachteiligt. Die Benachteiligung liegt in dem Umstand, dass der Kläger nicht eingestellt wurde und nicht bereits in der Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch. Das LAG Köln war noch darüber hinaus gegangen und hatte bereits in der Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch eine Benachteiligung des Klägers gesehen. Dass der Verstoß gegen die Pflicht, schwerbehinderte Menschen zum Vorstellungsgespräch einzuladen, nicht bereits eine Benachteiligung darstellt, folgert das BAG sowohl aus dem Willen des Gesetzgebers als auch aus dem Umstand, dass auch ein Verstoß gegen § 11 AGG nicht mit der Zahlung einer Entschädigung verknüpft ist. Eine andere Wertung ergebe sich auch nicht aus einer unionsrechtskonformen Auslegung.

Das Land konnte diese Vermutungswirkung nicht dadurch widerlegen, dass die Bewerbung tatsächlich nicht zur Kenntnis des Sachgebietsleiters gelangt war. Das BAG führt aus, dass zur Widerlegung der Vermutung Tatsachen vorgetragen werden müssten, aus denen sich ergebe, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung des Klägers geführt hätten. Bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch sei zudem § 82 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt § 165 Satz 4 SGB IX) zu beachten, der regelt, dass eine Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nur dann entbehrlich ist, wenn diesem die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Aus dieser abschließenden Regelung folge, dass die fehlende fachliche Eignung eines schwerbehinderten Bewerbers – solange diese nicht offensichtlich ist – nicht zur Begründung einer ungünstigeren Behandlung herangezogen werden dürfe.

Die Vermutung einer Diskriminierung könne durch die Darlegung und ggf. den Beweis widerlegt werden, dass ein Arbeitgeber aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalls nicht die Möglichkeit hatte, eine zugegangene Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. Dann sei es nämlich ausgeschlossen, dass ein Grund iSv. § 1 AGG eine Rolle gespielt habe.

Hier scheiterte das Land allerdings daran, dass die Möglichkeit zur Kenntnisnahme durchweg bestanden hatte. Zum einen hatte der Sachgebietsleiter einige Bewerbungen geöffnet und damit zur Kenntnis genommen. Zum anderen befand sich die Bewerbung im Ablage-Ordner, wo sie jederzeit hätte aufgerufen werden können.

Gleiss Lutz kommentiert

Das BAG hat erneut klargestellt, dass die Nichteinladung eines schwerbehinderten Bewerbers durch einen öffentlichen Arbeitgeber die widerlegbare Vermutung der Benachteiligung wegen einer Behinderung begründet. Die bloße Nichteinladung selbst stellt damit zwar noch keine Diskriminierung dar, die Widerlegbarkeit der Vermutungswirkung ist aber eher theoretischer Natur. Tatsächlich genügt nicht einmal der Vortrag, dass die Bewerbung nicht zur Kenntnis genommen wurde, um eine Benachteiligung wegen einer Behinderung auszuschließen.

Verfahrenspflichten rund um die Bewerbung schwerbehinderter Personen treffen im Übrigen auch private Arbeitgeber: Gem. § 164 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX sind alle Arbeitgeber verpflichtet, zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitsuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Dafür müssen sie frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit aufnehmen.

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