Hat ein Arbeitnehmer mehrere Arbeitsverträge mit einem Arbeitgeber abgeschlossen, sind diese kumulativ zu betrachten bei der Frage, ob die tägliche Mindestruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden eingehalten worden ist. Abzustellen ist auf den Arbeitnehmer und nicht auf jeden einzelnen Arbeitsvertrag.
EuGH, Urteil vom 17. März 2021 – C-585/19
Sachverhalt
Die Akademie für wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge in Bukarest setzte bei einem Forschungsprojekt Sachverständige ein und schloss mit diesen jeweils mehrere Arbeitsverträge. Auf dieser Grundlage leisteten die Sachverständigen für das Forschungs- und andere Projekte zusammen zeitweise mehr als 13 Stunden pro Tag. Wegen der Überschreitung der zulässigen Höchstarbeitszeit verweigerten die rumänischen Behörden die von der Akademie beantragte und ansonsten übliche Erstattung der Gehaltskosten für diese Sachverständigen.
Nach Zurückweisung einer von der Akademie eingelegten Verwaltungsbeschwerde, klagte diese auf Erstattung. Das mit der Sache befasste Landgericht Bukarest (Tribunalul Bucuresti) legte dem EuGH die Frage vor, ob für die Bemessung der Arbeitszeit in Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88/EG („Arbeitszeit-RL“) und der täglichen Mindestruhezeit nach Art. 3 der Arbeitszeit-RL auf alle vom Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsverträge abzustellen oder jeder Arbeitsvertrag separat zu betrachten ist.
Entscheidung des EuGH
Für die Frage, ob im Einzelfall die tägliche Höchstarbeitszeit überschritten bzw. die Mindestruhezeit eingehalten wurde, sind nach dem EuGH alle vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeitsstunden zu betrachten, unabhängig davon, ob diese auf Grundlage eines einzigen Arbeitsvertrags oder mehrerer Arbeitsverträge mit demselben Arbeitgeber erbracht wurden. Nach Art. 3 der Arbeitszeit-RL sei „jedem Arbeitnehmer“ pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden zu gewähren. Bezugspunkt sei damit der Arbeitnehmer und nicht der jeweilige Arbeitsvertrag. Zudem stünden Arbeitszeit und Ruhezeit in einem Ausschlussverhältnis. Stunden, die bei einem Vertrag als Arbeitszeit angesehen werden, könnten nicht zugleich bei einem anderen Vertrag als Ruhezeit eingestuft werden. Auch teleologische Erwägungen sprächen für eine gemeinsame Betrachtung aller Arbeitsverträge. Der von der Richtlinie bezweckte (Gesundheits-)Schutz des Arbeitnehmers, der sich im Übrigen auch aus Art. 31 Abs. 2 GRC ergebe, würde durch eine anderslautende Auslegung von Art. 3 Arbeitszeit-RL geschwächt.
Gleiss Lutz kommentiert
Die Entscheidung ist konsequent und verhindert eine missbräuchliche Vertragsgestaltung dergestalt, dass Arbeitgeber Arbeitszeiten auf mehrere Arbeitsverträge aufteilen, um die Mindestruhezeiten zu umgehen. Dass Arbeitszeiten bei mehreren Arbeitsverhältnissen mit verschiedenen Arbeitgebern zusammenzurechnen sind, ergibt sich bereits seit 1994 aus dem Gesetz (§ 2 Abs. 1 S. 1 ArbZG). Wird die zulässige Höchstarbeitszeit bei einem solchen Doppel- oder Mehrfacharbeitsverhältnis überschritten, kann das zur (Teil-)Nichtigkeit des zuletzt abgeschlossenen Arbeitsvertrags führen. Arbeitgeber sollten sich darüber hinaus ihrer straf- und bußgeldbewährte Verantwortung für die Einhaltung der Grenzen des Arbeitszeitgesetzes bewusst sein. Der EuGH hat nun klargestellt, dass Stunden auch bei mehreren Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber zu addieren sind.