Befristet ein Tarifvertrag den Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub eigenständig und verlangt er zudem, dass der Arbeitnehmer den Mehrurlaub zur Meidung seines Verfalls vor einem bestimmten Termin geltend zu machen hat, trägt – abweichend von § 7 Abs. 1 S.1 BUrlG – regelmäßig nicht der Arbeitgeber, sondern der Arbeitnehmer die Initiativlast für die Verwirklichung des Mehrurlaubsanspruchs.
BAG, Urteil vom 25.08.2020 – 9 AZR 214/19
Sachverhalt
Die Parteien streiten über tariflichen Mehrurlaub aus dem Jahr 2016. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers findet der Bundesmanteltarifvertrag der Süßwarenindustrie (im Folgenden: „BMTV“) Anwendung. Dieser beinhaltet in § 12 ausführliche Regelungen zum Urlaubsanspruch. § 12 IV Ziff. 3 BMTV lautet: „Der Urlaubsanspruch erlischt am 31. März des folgenden Jahres, sofern er nicht vorher vergeblich geltend gemacht worden ist.“ Vom 19. Januar 2016 bis 2. Juni 2017 war der Kläger krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Am 25. August 2017 beantragte er Urlaub. Der Urlaubsantrag wurde von der Beklagten nur in Höhe des gesetzlichen Mindesturlaubs bewilligt. Hinsichtlich des tariflichen Mehrurlaubs berief sich die Beklagte auf § 12 IV Ziff. 3 BMTV. Der Kläger begehrt die Feststellung, dass er für das Jahr 2016 einen Ersatzurlaubsanspruch in Höhe von 10 Tagen habe. Das Begehren blieb in den Vorinstanzen erfolglos.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Auch die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg. Der Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub aus dem Jahr 2016 sei, so das BAG; nach dem Wortlaut von § 12 IV Ziff. 3 BMTV erloschen, weil der Kläger dessen Gewährung erst nach dem 31. März 2017 verlangt habe. Die tarifvertragliche Regelung sei auch wirksam. Eine Auslegung von § 12 BMTV ergebe, dass der Verfall des tariflichen Mehrurlaubs nicht dem Fristenregime des gesetzlichen Mindesturlaubs unterfalle. Die tariflichen Urlaubsbestimmungen gelten nach § 12 Eingangsabsatz S. 2 BMTV nur, soweit nicht in gesetzlichen Vorschriften zwingend andere Regelungen enthalten sind. Die Tarifvertragsparteien haben mit dieser Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 12 BMTV dem unabdingbaren Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs Rechnung getragen und zugleich ihre Absicht dokumentiert, den tariflichen Urlaubsanspruch im Rahmen des gesetzlich Zulässigen eigenständig und unabhängig vom Bundesurlaubsgesetz zu regeln. § 12 IV Ziff. 3 BMTV regele deutlich, dass offener Urlaub bei fehlender Geltendmachung ausnahmslos, d. h. auch bei Erkrankung des Arbeitnehmers, am 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres verfallen solle. Damit weise § 12 IV Ziff. 3 BMTV dem Arbeitnehmer zudem ausdrücklich die Initiativlast für die Verwirklichung des tariflichen Mehrurlaubsanspruchs zu. Dem Arbeitgeber haben die Tarifvertragsparteien hingegen keine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten auferlegt.
Gleiss Lutz kommentiert
Das BAG setzt mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung zum Verfall von Urlaub konsequent fort. Die für den gesetzlichen Mindesturlaub – in unionrechtskonformer Rechtsfortbildung – entwickelten Grundsätze gelten nicht automatisch für tariflichen oder arbeitsvertraglichen Mehrurlaub. Es steht den Tarif- und Arbeitsvertragsparteien frei, abweichende Vereinbarungen zu treffen. Insofern ist auf eine deutliche Differenzierung zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch und dem tariflichen bzw. arbeitsvertraglichen Mehrurlaub zu achten. Die Entscheidung enthält dazu gute Leitlinien für die Praxis.