Arbeitsrecht

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

In seinem Urteil vom 28. Juni 2023 (5 AZR 335/22) setzt sich das BAG mit dem Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) und der möglichen Erschütterung dieses Beweiswerts durch Verstöße des ausstellenden Arztes gegen Vorschriften der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AURL) auseinander. Das BAG stellt klar, dass der Beweiswert einer AUB durch Verstöße gegen bestimmte Vorgaben der AURL erschüttert werden kann.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert der vom Kläger eingereichten AUB. Der Kläger war bei der Beklagten, die Personalvermittlung und -verleih betreibt, vom 16. Januar 2020 bis zum 30. September 2020 als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Nachdem dem Kläger am 2. September 2020 die Kündigung der Beklagten zugegangen war, meldete er sich für den Zeitraum vom 7. September bis zum 30. September 2020 unter Vorlage zweier AUB krank. Daraufhin zahlte die Beklagte dem Kläger für den Monat September 2020 weder Vergütung noch Entgeltfortzahlung gem. § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Der Kläger erhob Klage vor dem Arbeitsgericht, mit der er Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG i.H.v. 1.788,48 € für den Zeitraum vom 7. bis zum 30. September 2020 begehrte. Zur Begründung führte er aus, dass er seine Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage der AUB nachgewiesen habe und deren Beweiswert nicht erschüttert worden sei. Der Kläger brachte zudem die der AUB zugrundeliegenden Diagnosen im Laufe des Verfahrens freiwillig ein. Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen, da der Beweiswert der AUB erschüttert sei. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass die AUB nicht entsprechend der Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AURL) ausgestellt worden sei. Insbesondere nahm die Beklagte dabei Bezug auf § 5 Abs. 1 S. 4 AURL (in der im September 2020 geltenden Fassung; entspricht ab 1. April 2023 § 5 Abs. 1 S. 5 AURL), wonach die beschriebenen Symptome spätestens nach sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ausgetauscht werden müssten. Das Arbeitsgericht gab der Klage in der Sache statt, das Landesarbeitsgericht wies die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurück.

Die Entscheidung

Das BAG wies die Revision der Beklagten zurück und gab der Klage im Einklang mit den Vorinstanzen statt. Es sprach dem Kläger einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gem. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG mit der Begründung zu, dass die Beklagte den Beweiswert der AUB des Klägers nicht erschüttert habe.

  • Das BAG beruft sich zunächst auf die bisherige Rechtsprechung des BAG, wonach gemäß den allgemeinen Grundsätzen der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG trägt. Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit werde in der Regel allerdings bereits durch die Vorlage einer ärztlichen, ordnungsgemäß ausgestellten AUB iSd. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG geführt. Eine solche AUB sei das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reiche die Vorlage einer AUB iSd. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Legt der Arbeitnehmer im Prozess eine AUB vor, könne der Tatrichter den Beweis für die Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich als erbracht ansehen. Der AUB komme aufgrund der normativen Vorgaben im EFZG ein besonders hoher Beweiswert zu.
  • Der Arbeitgeber könne den Beweiswert der AUB erschüttern, indem er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der AUB kein Beweiswert mehr zukommt. Der Beweiswert einer AUB könne gemessen an den Umständen des Einzelfalls aber auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der AURL erschüttert sein. Das BAG unterscheidet dabei Verstöße gegen verschiedene Arten von Vorschriften in der AURL. Verstöße gegen § 4 und § 5 AURL, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen, seien nach der Lebenserfahrung und Expertise des Normgebers der AURL geeignet, den Beweiswert einer AUB iRd. durchzuführenden Beweiswürdigung zu erschüttern. Diese Bestimmungen würden unter anderem Vorgaben zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit beinhalten. Zwar seien diese Angaben für die Arbeitsvertragsparteien sowie Arbeitsgerichte nicht bindend, sie enthielten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und bildeten den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab. Ein Verstoß gegen formale Vorgaben der AURL, denen vorwiegend kassenrechtliche Bedeutung zukommt und die das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse im Hinblick auf Abrechnungs- und Formularfragen betreffen, seien für den Beweiswert der AUB hingegen unerheblich.
  • Explizit können sich nach Ansicht des BAG Zweifel an der Richtigkeit einer AUB aus Verstößen gegen § 5 Abs. 1 S. 4 AURL (§ 5 Abs. 1 S. 5 AURL n.F.) ergeben. Die Norm verpflichtet dazu, Symptome wie Fieber oder Übelkeit spätestens am siebten Tag der attestierten Arbeitsunfähigkeit durch eine ICD-10 kodierte Diagnose oder Verdachtsdiagnose bescheinigen zu lassen. Zwar dienten die ICD-10-Codes in erster Linie abrechnungsrechtlichen Zwecken, dennoch könnten diese im Einzelfall Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung aufwerfen. Unerheblich sei insofern, dass der Arbeitnehmer nicht zur Offenlegung der Art der Arbeitsunfähigkeit und zugrundeliegenden Erkrankung verpflichtet sei. Offenbart der Arbeitnehmer die zugrundeliegenden Diagnosen und ICD-10-Codes freiwillig im Verfahren, dürften diese Informationen (auch zulasten des Arbeitnehmers) verwertet werden. Liege ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 S. 4 AURL (§ 5 Abs. 1 S. 5 AURL n.F.) vor, habe dieser Auswirkungen auf die gesamte Bescheinigung, nicht nur auf den Zeitraum nach Ablauf der zulässigen sieben Tage iSd. § 5 Abs. 1 S. 4 AURL (§ 5 Abs. 1 S. 5 AURL n.F.). Ob der Beweiswert letztlich erschüttert ist, obliege jedoch der richterlichen Beweiswürdigung iSd. § 286 ZPO.

Fazit/Praxiskommentar

In der vorliegenden Entscheidung des BAG vom 28. Juni 2023 (5 AZR 335/22) verneint der Fünfte Senat des BAG zwar die Erschütterung des Beweiswertes u.a. mangels Verstoßes gegen relevante Vorschriften der AURL, die grundsätzlichen Feststellungen des BAG zur möglichen Erschütterung des Beweiswertes aufgrund von Verstößen gegen die AURL sind jedoch zu begrüßen.

Mit seiner Entscheidung bestätigt das BAG erneut den hohen Beweiswert der AUB. Er entwickelt aber auch die bisherige Rechtsprechung dahingehend weiter, dass der Beweiswert im Einzelfall durch Verstöße des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorschriften der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein kann. Dies ist erfreulich. Denn auch, wenn es angesichts des hohen Beweiswertes einer AUB nach wie vor ein schwieriges Unterfangen bleiben wird, dessen Beweiswert zu erschüttern, eröffnet sich damit ein weiterer Anknüpfungspunkt. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG auch zukünftig in weiteren Fällen Erschütterungsmöglichkeiten des Beweiswertes von AUB aufzeigen wird.

Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang zuletzt auch das Urteil des BAG vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21). Darin betonte das BAG bereits den hohen Beweiswert der AUB. Es stellte jedoch auch klar, dass der Beweiswert erschüttert werden kann, wenn die Dauer der attestierten Arbeitsunfähigkeit identisch ist mit der Dauer der Kündigungsfrist (Beitrag vom 21. Januar 2022).
 

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