Arbeitsrecht

Betriebsübergang ohne Übernahme materieller Betriebsmittel?

Die Nichtübernahme materieller Betriebsmittel durch den Erwerber aufgrund rechtlicher, umweltrelevanter und technischer Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers steht der Qualifizierung als Betriebsübergang nicht notwendigerweise entgegen, wenn andere Tatsachen, wie die Übernahme eines wesentlichen Teils der Belegschaft und die Fortsetzung der Tätigkeit ohne Unterbrechung, die Feststellung zulassen, dass die wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt. 

EuGH, Urteil vom 27. Februar 2020 – C-298/18

Voraussetzungen eines Betriebsübergangs im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG

Als Betriebsübergang im Sinne der Richtlinie gilt der Übergang einer ihre Identität wahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist für einen solchen Übergang entscheidend, dass die wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt. Davon ist auszugehen, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen wird.

Für die Feststellung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu hat der Europäische Gerichtshof sieben Kriterien entwickelt:

  • die Art des Betriebs,
  • der Übergang oder Nichtübergang materieller Betriebsmittel wie z. B. Gebäude oder bewegliche Güter,
  • der Wert immaterieller Betriebsmittel,
  • die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft,
  • der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft sowie
  • der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und nach dem Betriebsübergang verrichteten Tätigkeit und
  • die Dauer einer eventuellen Unterbrechung der Tätigkeit.

Je nach ausgeübter Tätigkeit und je nach Produktions- oder Betriebsmethoden kommt den verschiedenen Kriterien unterschiedliches Gewicht zu. Differenziert wird zwischen betriebsmittelarmen und betriebsmittelgeprägten Betrieben. Kommt es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft an, wird die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit bejaht, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die jeweilige Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt. Erfordert die Tätigkeit in erheblichem Umfang materielle Betriebsmittel, dann ist bei der Frage, ob ein Betriebsübergang vorliegt, zu berücksichtigen, ob die Betriebsmittel auf den neuen Inhaber übergegangen sind.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

Das Busunternehmen, bei dem die beiden Kläger beschäftigt waren, betrieb jahrelang im Auftrag eines Landkreises den öffentlichen Busverkehrsdienst. Der Landkreis schrieb den öffentlichen Busverkehrsdienst neu aus. Das Busunternehmen gab kein Angebot ab. Es stellte den Geschäftsbetrieb ein und kündigte die Arbeitsverhältnisse mit den Klägern und sämtlichen anderen Arbeitnehmern. Den Auftrag des Landkreises erhielt das Kraftverkehrsunternehmen und stellte einen überwiegenden Teil der Belegschaft des Busunternehmens ein. Busse, Betriebsstätten und sonstige Betriebsanlagen übernahm das Kraftverkehrsunternehmen nicht. Die Busse verstießen aufgrund ihres Alters gegen rechtliche, technische und umweltrelevante Normen des öffentlichen Auftraggebers.  

Im Rahmen beider Klagen stellte sich die Frage, ob das Arbeitsverhältnis des jeweiligen Klägers im Rahmen eines Betriebsübergangs von dem Busunternehmen auf das Kraftverkehrsunternehmen übergangen ist.

Das Arbeitsgericht legte dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung die Frage vor, ob es zu dem Übergang eines Busbetriebs komme, obwohl keine nennenswerten Betriebsmittel, insbesondere Busse, übertragen werden. Darüber hinaus wollte das Arbeitsgericht vom Europäischen Gerichtshof wissen, ob die Tatsache, dass die Busse aufgrund ihres Alters und der gestiegenen technischen Anforderungen nicht mehr von erheblicher Bedeutung für den Wert des Busbetriebs sind, einen Betriebsübergang aufgrund der bloßen Übernahme eines wesentlichen Teils der Belegschaft rechtfertigen kann.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs

Der Europäische Gerichtshof betonte, dass für einen Betriebsübergang entscheidend sei, dass die wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahre. Dies sei dann der Fall, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen werde. Für eine solche Feststellung müssten sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden.

Der Europäische Gerichtshof beantwortete die Vorlagefragen dahingehend, dass bei der Übernahme einer Tätigkeit, deren Ausübung nennenswerte Betriebsmittel erfordert, die Nichtübernahme der materiellen Betriebsmittel aus rechtlichen, umweltrelevanten oder technischen Vorgaben der Qualifizierung als Betriebsübergang nicht notwendigerweise entgegenstehe, wenn andere tatsächliche Faktoren wie die Übernahme eines wesentlichen Teils der Belegschaft und die ununterbrochene Fortsetzung der Tätigkeit die Feststellung zuließen, dass der Betrieb seine Identität wahre.  

Gleiss Lutz kommentiert

Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durchsetzt. Zum einen weicht der Gerichtshof von einem seiner eigenen Urteile aus dem Jahr 2001 ab, in dem die materiellen Betriebsmittel (ebenfalls Busse) nicht übernommen wurden und der Europäische Gerichtshof einen Betriebsübergang verneinte (EuGH, Urteil vom 25. Januar 2001 – C-172/99). Zum anderen entschied auch das Bundesarbeitsgericht unlängst anders und schloss den Betriebsübergang im Fall eines Rettungsdienstes aus, weil die Rettungsfahrzeuge nicht übernommen wurden (BAG, Urteil vom 25. August 206 – 8 AZR 53/15). Unklar ist der Ansatz des Europäischen Gerichtshofs, die Gründe für die Nichtübernahme der Betriebsmittel zu berücksichtigen. Ebenso unklar ist, ob der Europäische Gerichtshof die Unterscheidung zwischen betriebsmittelarmen und betriebsmittelgeprägten Betrieben aufweicht. Klar ist nur und das verdeutlicht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs einmal mehr, dass es bei der Beurteilung eines Betriebsübergangs auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls und die Gesamtbetrachtung der bekannten sieben Kriterien (Art des Betriebs, Übergang/Nichtübergang materieller Betriebsmittel, Wert immaterieller Betriebsmittel, Übernahme/Nichtübernahme der Hauptbelegschaft, Übergang/Nichtübergang der Kundschaft, Grad der Ähnlichkeit der verrichteten Tätigkeit und Dauer einer eventuellen Tätigkeitsunterbrechung) ankommt.

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