Arbeitsrecht

BAG: Rechtsprechungswechsel im Sanktionsregime bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen?

Der Sechste Senat des BAG wirft die Frage auf, ob Kündigungen im Rahmen von Massenentlassungen zukünftig trotz Verstoßes gegen Anzeigepflichten wirksam sein könnten. Er erklärte im Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22, dass er einen Rechtsprechungswechsel zum Sanktionsregime bei fehlerhaften Anzeigen einer Massenentlassung beabsichtige. Nun ist es am Zweiten Senat des BAG zu erklären, ob er an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten möchte.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Die Beklagte, eine insolvente Kapitalgesellschaft, unterlag vor dem Arbeitsgericht und dem LAG Hamburg. Die Gerichte gaben der Kündigungsschutzklage statt, weil die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung keine sog. Massenentlassungsanzeige gem. § 17 Abs. 1 KSchG bei der Agentur für Arbeit erstattet hatte. Die Beklagte, bei der kein Betriebsrat gebildet war, hatte im 30-Tage-Zeitraum mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen, darunter den Kläger. Nach Ansicht des Klägers und der Vorinstanzen war die Kündigung daher gem. § 134 BGB nichtig. Mit Beschluss vom 11. Mai 2023 hatte der Sechste Senat des BAG erkannt, dass der Betrieb der Beklagten im Zeitpunkt der Entlassung „in der Regel“ noch mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigte und die Beklagte deshalb vor der Kündigung eine Massenentlassungsanzeige hätte erstatten müssen. Er setzte das Verfahren jedoch bis zur Entscheidung des EuGH, welchen Zweck die in der Massenentlassungsrichtlinie vorgeschriebene Massenentlassungsanzeige hat, aus. Der Senat hatte diese Frage bereits zuvor in einem ähnlich gelagerten Verfahren vorgelegt (BAG, Vorlagebeschluss vom 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A)). Der EuGH entschied am 13. Juli 2023, dass die Pflicht des Arbeitgebers gem. Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 Massenentlassungsrichtlinie, der zuständigen Behörde eine Abschrift der Mitteilung an die Arbeitnehmervertretung zu übermitteln, die bestimmte Angaben zu den Umständen der Entlassung enthält, nicht den Zweck habe, den von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22 (M O/S M)).

Die Entscheidung

Der Sechste Senat des BAG nahm den zu entscheidenden Fall zum Anlass, das bisherige Sanktionssystem für Fehler bei der Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1 KSchG grundsätzlich zu überprüfen. Dabei kommt der Sechste Senat zu dem Ergebnis, dass der Massenentlassungsanzeige bei der Behörde keinerlei Drittschutz (mehr) beizumessen sei. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG waren Kündigungen, die ohne die erforderliche Massenentlassungsanzeige ausgesprochen wurden, unwirksam (BAG, Urteil vom 22. November 2012 – 2 AZR 371/11). Der insbesondere für Insolvenzrecht und damit zusammenhängende Kündigungsschutzverfahren zuständige Sechste Senat des BAG fragt nun beim insbesondere für (sonstige) Kündigungsschutzverfahren zuständigen Zweiten Senat an, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalte.

Der sechste Senat begründet seine Vorlage wie folgt:

  • Der Unionsgesetzgeber hat – ebenso wie der deutsche Gesetzgeber – keine Nichtigkeitsfolge für Verstöße ausdrücklich vorgesehen.
  • Verstöße gegen die Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1 KSchG führen nicht zur Nichtigkeit nach § 134 BGB. Es fehle der Verpflichtung der erforderliche Verbotscharakter. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Kündigung bei Verstößen gegen die Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1 KSchG nicht angetastet werden.
  • Weder der Verstoß gegen die Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige noch alle anderen denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren könnten zur Nichtigkeit einer Kündigung gem. § 134 BGB führen. Die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige diene nicht der Verhinderung der Kündigung, sondern soll der Arbeitsverwaltung ermöglichen, sich auf die Auswirkungen einer größeren Zahl an Kündigungen auf den örtlichen Arbeitsmarkt einzustellen. Die Anzeigeplicht diene damit nicht dem Schutz des Einzelnen.
  • § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG sei eine „Vorschrift mit reiner Ordnungsfunktion“.
  • Auch § 18 KSchG, der regelt, dass nach § 17 KSchG anzuzeigende Entlassungen nur mit Zustimmung der Agentur für Arbeit vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam werden, könne nicht so ausgelegt werden, dass eine Kündigung ohne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nichtig sei. Eine solche Auslegung sei zudem unverhältnismäßig.

Der Sechste Senat weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass er keinen Anlass dazu sieht, von der Rechtsprechung zur Nichtigkeit einer Kündigung aufgrund von Fehlern im Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat abzurücken. Zum Zweck des Konsultationsverfahrens gem. § 17 Abs. 2 KSchG gehöre auch der Arbeitnehmerschutz, weshalb dem Konsultationsverfahren – anders als dem Anzeigeverfahren – individualschützende Funktion zukomme.

Praxishinweis

Sollte der Zweite Senat an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten wollen, wird der Sechste Senat die Rechtsfrage als sog. Divergenzvorlage dem Großen Senat vorlegen. Der Große Senat setzt sich zusammen aus der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts und je einem berufsrichterlichen Mitglied der Senate mit Ausnahme des Senats, dessen Vorsitzende die Präsidentin ist, sowie sechs ehrenamtlichen Richtern.

In der Sache liegt der Sechste Senat mit seiner Rechtsansicht richtig. Er setzt die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage konsequent um. Die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige dient der Agentur für Arbeit, nicht dem gekündigten Arbeitnehmer. Sollte sich die Ansicht des Sechsten Senats durchsetzen, fällt für Arbeitgeber ein praxisrelevanter Stolperstein beim Ausspruch mehrerer Kündigungen in Zukunft weg. Unangetastet bleibt bislang jedoch das Sanktionsregime zum Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG. Der Sechste Senat überträgt seine Rechtsprechungsänderung nicht darauf. Arbeitgeber sind daher auch in Zukunft gut beraten, bei Erreichen der Schwellenwerte für eine Massenentlassung im Sinne des § 17 KSchG besondere Vorsicht walten zu lassen.

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