Gesellschaftsrecht

Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen

Drei Monate nach der Veröffentlichung des Regierungsentwurfs ist das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften am 27. Juli 2022 wie erwartet noch vor der Sommerpause in Kraft getreten. Trotz der vielfachen Kritik am Regierungsentwurf, die aus Wissenschaft und Praxis auch in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses geäußert wurde, wurden im finalen Gesetz nur noch wenige Anpassungen vorgenommen.

 

I. Wesentliche Änderungen im Vergleich zum Regierungsentwurf

  • Voraussetzung für die virtuelle Hauptversammlung ist nach dem verabschiedeten Gesetz eine Satzungsregelung – als direkte Regelung oder als Ermächtigung an den Vorstand –, die spätestens nach fünf Jahren zu erneuern ist. Im Gegensatz zum Regierungsentwurf sieht das Gesetz keine Beschränkung der in einer virtuellen Hauptversammlung zu behandelnden Beschlussgegenstände mehr vor. Für einen Übergangszeitraum bis einschließlich 31. August 2023 kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats eine virtuelle Hauptversammlung auch ohne Satzungsermächtigung einberufen.
     
  • Auch nach dem verabschiedeten Gesetz muss es den Aktionären ermöglicht werden, während der virtuellen Hauptversammlung Anträge zu stellen sowie Widerspruch gegen gefasste Beschlüsse zu erheben. Davon sind neben Verfahrensanträgen auch Gegenanträge und Wahlvorschläge erfasst. Anders als noch im Regierungsentwurf vorgesehen, dürfen Anträge ausschließlich im Wege der Videokommunikation gestellt werden. Im Vorfeld der virtuellen Hauptversammlung eingereichte und von der Gesellschaft zugänglich zu machende Gegenanträge oder Wahlvorschläge gelten als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt (sog. Fiktionslösung). Sofern der antragsstellende Aktionär nicht ordnungsgemäß legitimiert und, sofern eine Anmeldung erforderlich ist, nicht ordnungsgemäß angemeldet ist, muss der Antrag in der Versammlung nicht behandelt werden.
     
  • Hinsichtlich des Auskunftsrechts der Aktionäre kann der Vorstand auch nach dem neuen Gesetz vorgeben, dass Aktionärsfragen bis spätestens drei Tage vor dem Versammlungstermin einzureichen sind. Dann hat die Gesellschaft diese Fragen aber auch bis spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten und die Fragen und die Antworten auf der Internetseite zu veröffentlichen. Im Gegenzug muss in der Versammlung selbst dazu keine Auskunft mehr gegeben werden. Neu ist gegenüber dem Regierungsentwurf, dass in der Hauptversammlung nur Nachfragen zu den bereits im Vorfeld gegebenen Antworten und Fragen zu neuen Sachverhalten beantwortet werden müssen; die Abgrenzung neuer Fragen zu bereits zuvor bekannten Sachverhalten könnte im Einzelfall allerdings schwierig sein. Das Fragerecht in der Versammlung kann auf die Videokommunikation und auf einen angemessenen Umfang beschränkt werden. Außerdem ist der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt konsequenterweise auch nur dann zu veröffentlichen, wenn auch eine Vorabeinreichung von Fragen der Aktionäre vorgesehen ist.
     
  • Das Rederecht ist in der Versammlung über Videokommunikation zu gewähren. Dabei dürfen neben Auskunftsverlangen und Nachfragen auch Anträge und Wahlvorschläge Bestandteil des Redebeitrags sein. Ergänzt wurde gegenüber dem Regierungsentwurf, dass sich die Gesellschaft eine Funktionsfähigkeitsprüfung der Videokommunikation des Aktionärs vorbehalten kann, um einen technisch möglichst reibungslosen Ablauf der Hauptversammlung zu gewährleisten. Außerdem soll das Live-Rederecht durch einen „virtuellen Wortmeldetisch“ abgewickelt werden.
     
  • Schließlich erhalten die Aktionäre bis spätestens fünf Tage vor der virtuellen Hauptversammlung das Recht, Stellungnahmen zu Gegenständen der Tagesordnung einzureichen, die dann bis spätestens vier Tage vor Versammlung zugänglich zu machen sind. Der Umfang der Stellungnahmen kann angemessen auf eine bestimmte Zeichen- oder Minutenanzahl beschränkt werden. Die Ausgestaltung wird den Gesellschaften überlassen; denkbar sind hier Stellungnahmen in Text- oder Videoform. Das neue Gesetz sieht darüber hinaus vor, dass das Recht zur Stellungnahme auf ordnungsgemäß zur Hauptversammlung angemeldete Aktionäre beschränkt werden kann und dass solche Stellungnahmen dann auch nur für diesen Personenkreis zugänglich gemacht werden müssen.
     
  • Unverändert ist für die virtuelle Hauptversammlung weiterhin vorgesehen, dass alle Mitglieder des Vorstands und grundsätzlich auch alle Mitglieder des Aufsichtsrats am Ort der Hauptversammlung anwesend sein sollen. Für die Mitglieder des Aufsichtsrats ist bei entsprechender Satzungsregelung auch eine Zuschaltung im Wege der Bild- und Tonübertragung zulässig.
     

II. Gleiss Lutz kommentiert

Die wenigen Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf sind im verabschiedeten Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen ohne Zweifel zu begrüßen. Die neuen Vorschriften werden in der Praxis gerade auch im Hinblick auf die erhöhten Rechtsunsicherheiten und gestiegenen Technikanforderungen intensiv diskutiert. Nach aktuellem Stand wird man in der Hauptversammlungssaison aber auch eine bedeutende Zahl virtueller Hauptversammlungen sehen. Neben einer möglichen Kostenersparnis und der Schärfung des digitalen Profils könnten auch Nachhaltigkeitserwägungen bei der Entscheidung für ein virtuelles Format eine Rolle spielen. Bei der Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung ist aufgrund der Abgrenzungsschwierigkeiten, des Mehraufwands und der Veröffentlichungspflicht der Antworten voraussichtlich damit zu rechnen, dass Aktiengesellschaften von der Vorabeinreichung von Fragen überwiegend keinen Gebrauch machen werden. Das Auskunftsrecht wird dann – wie bei der Präsenzversammlung – ausschließlich in der Versammlung ausgeübt werden. Außerdem dürfte die Beschränkung auf die Videokommunikation als einzigen Kanal sowohl für das Rede- als auch für das Auskunftsrecht geeignet sein, die Komplexität zu verringern und Missbrauchsrisiken vorzubeugen. Aus Gründen der Effizienz und Flexibilität empfiehlt es sich ferner, eine Regelung für die virtuelle Hauptversammlung mit Ermächtigung an den Vorstand in die Satzung aufzunehmen.

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