Digital Economy

Digital Services Act und New Competition Tool: EU-Kommission beabsichtigt weitreichende Reform der Digital- und Wettbewerbsregeln

Der EU-Rechtsrahmen der digitalen Wirtschaft soll grundlegend reformiert und stärker reguliert werden. Die Kommission will Probleme, die sie in den letzten Jahren im Bereich digitale Dienste und Online-Plattformen beobachtet hat, in Angriff nehmen. Dazu hat die Kommission zwei Initiativen gestartet:

  • Durch das Gesetz über digitale Dienste („Digital Services Act“) soll die e-Commerce Richtlinie – insbesondere die Haftungsprivilegien für Plattformanbieter – aus dem Jahr 2000 überarbeitet werden, sodass die Verantwortlichkeiten von digitalen Dienstanbietern für Drittinhalte stärker definiert und damit die Rechte der Betroffenen sowie deren Durchsetzung gestärkt und EU-weit vereinheitlicht werden. Daneben soll das neue Gesetz für gleiche Wettbewerbsbedingungen auf den digitalen Märkten sorgen, auf denen zurzeit einige wenige große Online-Plattformen als „Gatekeeper“ agieren.
  • Ergänzend dazu soll ein neues Wettbewerbsinstrument („New Competition Tool“) eingeführt werden, um strukturelle Wettbewerbsprobleme frühzeitig zu identifizieren und zu beseitigen. Die zur Diskussion stehenden kartellrechtlichen Änderungen betreffen vor allem die Erweiterung der Interventionsbefugnisse der Kommission, damit diese mit den rasanten Entwicklungen auf den digitalen Märkten Schritt halten und angemessen auf wettbewerbsrechtliche Probleme und Risiken reagieren kann.

Die geplanten Reformen könnten daher einen Umbruch für die digitale Wirtschaft in der EU bedeuten. Als wichtigen Zwischenschritt für die Reformpläne leitete die Kommission am 2. Juni 2020 einen Konsultationsprozess zu beiden Initiativen ein, an dem sich Unternehmen und Interessengruppen bis zum 8. September 2020 beteiligen konnten. Ein entsprechender Legislativvorschlag ist für den 9. Dezember 2020 geplant.

Fokus Antitrust: Tiefgreifende Reform für mehr Fairness im digitalen Sektor

Sowohl das New Competition Tool als auch der Digital Services Act könnten wesentliche Reformen des Kartellrechts bewirken. Ziel beider Initiativen ist es, Wettbewerbsverzerrungen in der Digitalwirtschaft entgegenzuwirken. Dies betrifft vor allem strukturelle Risiken für den Wettbewerb aufgrund bestimmter Marktgegebenheiten wie Netzwerk- und Skaleneffekte, die fehlende Möglichkeit zur parallelen Nutzung mehrerer Netzwerke, die Übertragung von Marktmacht durch marktbeherrschende Unternehmen auf benachbarte Märkte sowie „Lock-in Effekte“. Solche Charakteristika drohen insbesondere bei Märkten, bei denen die Marktverhältnisse leicht kippen können („tipping markets“) und ein solches Kippen nur durch eine frühzeitige Intervention verhindert werden kann. Außerdem geht es um Märkte mit fehlendem Wettbewerb, vor allem Märkte mit starker Konzentration und hohen Marktzutrittsschranken sowie großen Datenmengen bzw. um oligopolistische Märkte, die das Risiko von stillschweigender Kollusion in sich tragen. Nach Auffassung der Kommission können diese Probleme derzeit mit den vorhandenen kartellrechtlichen Werkzeugen nicht hinreichend adressiert werden.

1. New Competition Tool

Im Rahmen des neuen Wettbewerbsinstruments untersucht die Kommission mehrere Optionen, die ihr ein rechtzeitiges Einschreiten ermöglichen sollen, z. B. ohne dass eine Marktbeherrschung vorliegt oder ein Missbrauch nachgewiesen werden muss. Schließlich untersucht die Kommission, ob diese Interventionsbefugnisse jeweils auf digitale Märkte zu beschränken sind oder darüber hinaus auch für andere Märkte gelten sollen. Gemeinsam ist allen Überlegungen, dass die Kommission Maßnahmen treffen können soll, auch wenn die Schwelle von Art. 102 AEUV nicht erreicht ist. Die Abhilfemaßnahmen, die die Kommission hierbei für sich in Anspruch nehmen will, könnten tiefgreifend ausfallen. Die Kommission hat bislang jedoch weitestgehend offengelassen, welche Art von Abhilfemaßnahmen konkret möglich sein sollen. Unklar ist auch, welche Art von Maßnahmen (strukturelle und/oder Verhaltensmaßnahmen) vorgesehen sind. Denkbar wären beispielweise sektorspezifische Interoperabilitiätsverpflichtungen gegenüber Marktteilnehmern, wie sie die britische „Open Banking“-Regulierung sowie die überarbeitete EU-Zahlungsdiensterichtlinie (PSD2) vorsehen. Danach müssen Banken ihre Zahlungsinfrastruktur öffnen und dritten Zahlungsdienstleistern wie z. B. Zahlungsauslösedienste wie Paypal Zugang zu Kontodaten von Kunden gewährleisten. Solche Datenzugangsverpflichtungen sollen den Eintritt neuer Marktteilnehmer fördern und den Wettbewerb im Zahlungsverkehrssektor stärken.  

2. Digital Services Act

Daneben soll auch der Digital Services Act die Frage der gleichen und fairen Wettbewerbsbedingungen in den digitalen Märkten angehen. Die Kommission prüft, inwiefern Wettbewerber von großen Online-Plattformen („Gatekeepern“) abhängen und welche Hürden und Wettbewerbsverzerrungen im Umfeld digitaler Ökosysteme bestehen, wie beispielweise die Fähigkeit eines in einem Markt dominanten Plattform-Unternehmens, in neue Märkte vorzudringen und sich dort eine Marktbeherrschung abzusichern.

Um solche Ungleichgewichte auf den digitalen Märkten zu beheben, fasst die Kommission auch hier mehrere Optionen ins Auge, die auf Plattform-Unternehmen einer bestimmten Größenordnung Anwendung finden sollen. Besonders relevant ist die vorgeschlagene ex-ante Regulierung, die bestimmte Verhaltensweisen verbieten soll („blacklisted“ practices wie z. B. Selbstbegünstigung) und zusätzlich auf Einzelfälle zugeschnittene Abhilfemaßnahmen umfassen könnte. In Betracht kommen hierbei spezifische Anforderungen an die Portabilität personenbezogener Daten und Datenzugangs- und Interoperabilitätsverpflichtungen für Plattform-Unternehmen. Die geplanten Regelungen erinnern an die aktuellen Tendenzen der Kartellbehörden, wie beispielsweise das aktuell laufende Kommissionsverfahren gegen Amazon, in dem die Kommission Amazon vorwirft, wettbewerbssensible Daten, die Amazon über Amazon Marketplace von Marktplatzhändlern erlangt, für die eigenen Verkaufsaktivitäten auf dem Marktplatz zu nutzen.

e-Commerce Richtlinie: Reform des Haftungsregimes

Eine Reform des Haftungsregimes der e-Commerce-Richtlinie könnte insbesondere die Rolle der Plattformanbieter in Bezug auf rechtsverletzende Drittinhalte grundlegend ändern. Dies könnte vor allem weitreichende Konsequenzen für Anbieter sozialer Netzwerke haben. Für Rechteinhaber und andere Betroffene könnte es hingegen zukünftig leichter werden, rechtsverletzende Inhalte von Plattformen entfernen zu lassen. Ungeklärt ist derzeit, ob und inwieweit das Haftungsregime auch für andere Diensteanbieter wie Access-Provider durch die Reform betroffen sein wird.

Zum Hintergrund: Bislang sehen die über 20 Jahre alten Haftungsregeln der e-Commerce-Richtlinie eine umfassende Haftungsprivilegierung von Plattformanbietern für Drittinhalte vor, wonach Plattformanbieter als sog. Hosting-Provider für Fremdinhalte erst dann haften, soweit sie nach Kenntniserlangung rechtswidrige Inhalte nicht entfernen – sog. Notice and Take Down Verfahren). Dieses Haftungsregime findet seine Ausgestaltung in nationalen Bestimmungen (in Deutschland umgesetzt durch das Telemediengesetz) und zahlreichen Gerichtsentscheidungen (z. B. Ausschluss der Haftungsprivilegien für solche Plattformanbieter, die eine „aktive Rolle“ übernehmen, Pflicht von Hosting-Providern bei Kenntniserlangung auch sinngleiche Inhalte zu sperren). Zudem werden Internetdienste zunehmend zur Verbreitung von rechtswidrigen und schädlichen Inhalte genutzt (sog. Hasskriminalität) mit schwerwiegenden Folgen für Nutzer, die Diensteanbieter und die Gesellschaft insgesamt. Hierauf haben bereits einzelne Mitgliedstaaten reagiert. Deutschland hat im Jahr 2018 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) erlassen. Danach sind Anbieter sozialer Netzwerke wie Facebook, YouTube und Twitter verpflichtet, offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu löschen. Andere EU-Mitgliedstaaten sind dem Beispiel gefolgt (z. B. Frankreich mit dem Gesetz „Avia“ gegen Hassrede, das jedoch vom französischen Verfassungsgericht zum großen Teil für verfassungswidrig erklärt wurde, da das Gesetz im Kern die Meinungsfreiheit verletze).

Das Problem zunehmender Hasskriminalität wurde auch auf EU-Ebene erkannt; im Jahr 2018 hat die Kommission eine Empfehlung für wirksame Maßnahmen im Umgang mit illegalen Online-Inhalten abgegeben. Nun sind entsprechende Reformen geplant.

Die Kommission prüft drei Reformansätze:

1. Minimalansatz: Konkretisierung des Notice and Take Down Verfahrens entsprechend der Empfehlung der Kommission aus dem Jahr 2018 (insbes. Einrichtung eines Beschwerdesystems und verpflichtende proaktive Maßnahmen zur automatischen Erkennung von rechtswidrigen Inhalten). Die Haftungsprivilegien von Hosting-Providern nach der e-Commerce Richtlinie sollen hingegen unangetastet bleiben.

2. Umfassende Reform der e-Commerce Richtlinie: Insbes. Harmonisierung und Präzisierung des Haftungsregimes sowie Anreizschaffung für Diensteanbieter gegen rechtswidrige Inhalte/Angebote vorzugehen; u. a.

  • Harmonisierung des Notice and Takedown Verfahrens
  • Einführung einer Pflicht der Plattformanbieter zur Erstellung von Risikobewertungen im Zusammenhang mit der Verbreitung von nur „schädlichen“ Inhalten
  • Effektiverer Rechtsschutz im Fall von ungerechtfertigter Löschung von rechtmäßigen Inhalten
  • Kooperations- und Berichtspflichten der Diensteanbieter gegenüber Behörden.

3. Neben Ansatz 1 oder 2: Schaffung eines wirksamen Systems der Aufsicht und Durchsetzung der gesetzlichen Verpflichtungen sowie Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten unterstützt durch eine Behörde auf EU-Ebene.

Grundsätzlich ist ein einheitlicher Rechtsrahmen für Plattformanbieter einschließlich eines einheitlichen Notice and Take Down Verfahrens zur Schaffung eines Level Playing Field zu begrüßen. Konkrete Vorschläge zur Änderung des Haftungsregimes der e-Commerce Richtlinie liegen derzeit noch nicht vor. Es bleibt daher abzuwarten, ob der Kommission der Spagat zwischen den Interessen der Betroffenen/Rechteinhabern und der Plattformanbieter gelingt.

Gleiss Lutz kommentiert

Die geplanten Reformpläne der Kommission für den digitalen Sektor sind ambitioniert. Wie weit sie tatsächlich gehen wird bzw. was sie davon durchsetzen kann, wird sich erst noch zeigen. Angesichts der weitreichenden Ankündigungen und der durchgeführten öffentlichen Konsultationen ist jedoch damit zu rechnen, dass wesentliche Eckpunkte der Vorhaben umgesetzt werden und das Kartellrecht im Bereich Digitalwirtschaft verschärft wird.

In jedem Fall wird es für Unternehmen des Digitalsektors unumgänglich sein, diesen Prozess genau mitzuverfolgen, um auf die Reformen rechtzeitig vorbereitet zu sein. Besondere Relevanz für Plattform-Unternehmen haben die geplanten Regelungen zum Haftungsregime der e-Commerce Richtlinie sowie die kartellrechtlichen Tools und Vorschriften, die große Player strenger unter die Lupe nehmen sollen. Gleichzeitig bietet die Reform Unternehmen, vor allem Start-ups, die Chance, von der Öffnung der digitalen Märkte zu profitieren.

Weiterleiten