Kartellrecht

Der Brexit und das Kartellrecht – Abschied von “One stop shop” und “European Competition Network”

Die Übergangsperiode für das Vereinigte Königreich wird zum 31. Dezember 2020 enden. Unternehmen prüfen seit langem, welche Auswirkungen dies für sie haben wird. Ein Aspekt von vielen sind die möglichen Auswirkungen auf das Kartell- und Beihilferecht. Zu einigen Fragen nimmt das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (das „Austrittsabkommen“) vom 17. Oktober 2019 bereits ausdrücklich Stellung, andere Fragen (insbesondere im Hinblick auf die Beihilfenkontrolle) sind noch ungeklärt. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob und auf was sich die EU und Großbritannien in der verbleibenden Zeit bis zum Austritt verständigen werden.

Übersicht

Die Verhandlungen eines Freihandelsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU dauern an. Ob sich durch ein Freihandelsabkommen noch gravierende Änderungen und Auswirkungen auf das Kartellrecht ergeben könnten, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt jedoch eher fraglich. Zum Glück wurde der Übergang vom derzeitigen Status quo – also dem „One stop shop“ im Bereich Fusionskontrolle und dem “European Competition Network” im Bereich Antitrust – weitgehend durchnormiert. Auch wenn der Abschied von diesen Grundprinzipien allen grenzüberschreitenden Unternehmen weh tun wird, so verbleibt als (schwacher) Trost, dass das Austrittsabkommen zumindest einige Zweifelsfragen zum Übergang geklärt haben dürfte, die in der Praxis von großer Relevanz sind.

In materieller Hinsicht trifft das Austrittsabkommen keine Vorgaben für die Zeit nach dem Ende der Übergangsperiode. Dem Vernehmen nach wollen die Vertragsparteien aber in dem künftigen Freihandelsabkommen weiterhin bei der grundsätzlichen Aufteilung in die bisherigen „Säulen“ (Kartellverbot, Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle) bleiben und hierfür gewisse Minimalstandards festsetzen. Dass es künftig bei den materiell-rechtlichen Regelungen zu einer grundsätzlichen Divergenz zwischen Großbritannien und der EU kommen wird, erscheint nicht sehr wahrscheinlich, auch weil beide Parteien eng im International Competition Network (ICN) eingebunden sind, in dessen Rahmen eine gewisse Harmonisierung angestrebt wird. Wesentlich wichtiger erscheint hingegen die Bedeutung des Freihandelsabkommens für die materielle Frage, wie es mit der Beihilfenkontrolle nach dem Ende der Übergangsfrist weitergehen wird.

Das Austrittsabkommen sieht differenzierte Übergangsregelungen vor, die im Hinblick auf das Kartellrecht von Interesse sind und daher im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

Antitrust: Kartellverbot und Missbrauchsaufsicht

Grundsätzlich können sowohl Mitgliedstaaten als auch die Kommission in Fällen von Kartellrechtsverstößen parallel nebeneinander tätig werden. Nur wenn die Kommission sich zu einer Einleitung eines förmlichen Verfahrens entschließt, verliert die nationale Wettbewerbsbehörde ihre Zuständigkeit (Art. 11 Abs. 6 VO (EG) 1/2003). Wenn Großbritannien nach Ende der Übergangsfrist nicht mehr als EU-Mitgliedstaat angesehen wird, wird diese Regelung jedoch keine Anwendung mehr finden. Im Hinblick auf neue Verfahren sind dann parallele Verfahren bei der Kommission und der britischen Wettbewerbsbehörde (Competition and Markets Authority – CMA) möglich.

Für laufende Kartellverfahren der Kommission gilt, dass die Kommission dann weiter zuständig bleibt, wenn sie die Einleitung eines Verfahrens bereits beschlossen hat (Art. 92 Abs. 3 b des Austrittsabkommens). Ob und in welchem Ausmaß die CMA dennoch für Teilaspekte eines solchen Verfahrens nach dem Ende der Übergangszeit zuständig sein könnte, scheint unklar. Die entsprechenden Leitlinien der CMA lassen ihr noch eine Hintertür offen, den Fall an sich zu ziehen. Dies gilt zumindest soweit „facts postdating the Transition Period“ betroffen sind, scheint von ihr aber noch weiter ausgelegt zu werden (CMA - UK exit from the EU - Guidance on the functions of the CMA under the Withdrawal Agreement, 28 January 2020, Rn. 4.19). Unternehmen, die ein zusätzliches Verfahren bei der CMA fürchten müssen, sehen sich daher gewissen Unsicherheiten ausgesetzt. Diese Risiken lassen sich durch die Stellung eines vorsorglichen Kronzeugenantrags bei der CMA möglicherweise reduzieren.

Eingegangene Verpflichtungen oder auferlegte Abhilfemaßnahmen, die in Großbritannien (oder in Zusammenhang mit Großbritannien) in Verbindung mit Kartellverfahren bei der Kommission eingegangen werden, sollen auch weiterhin grundsätzlich von der Kommission überwacht und durchgesetzt werden. Die Kommission kann die Überwachung und Durchsetzung dieser Verpflichtungen oder Abhilfemaßnahmen aber auch in Übereinstimmung mit der CMA an diese delegieren (Art. 95 Abs. 2 des Austrittsabkommens).

Fusionskontrolle

Im Rahmen der Fusionskontrolle stellt sich vor allem die Frage der Zuständigkeit, d. h. inwiefern bleibt die Kommission weiterhin für bereits laufende Fusionskontrollverfahren zuständig und wie verhält es sich bei noch nicht angemeldeten Zusammenschlüssen.

Sofern der Zusammenschluss bisher in die Zuständigkeit der Kommission fiel, war diese (vorbehaltlich weniger Sonderfälle wie Verweisungen) alleinig zuständig (sog. „One stop shop“-Prinzip). Parallele Fusionskontrollverfahren der Kommission und einzelner Mitgliedstaaten waren daher grundsätzlich nicht vorgesehen. Diese Regelung kam den Bedürfnissen der Wirtschaft sehr entgegen.

Mit Ablauf der Übergangsfrist zum 31. Dezember 2020 wird Großbritannien jedoch nicht mehr als EU-Mitgliedstaat behandelt. Dies würde bedeuten, dass für alle neu anzumeldenden Zusammenschlüsse geprüft werden müsste, ob zusätzlich zu der Anmeldung bei der Kommission eine Anmeldung bei der CMA sinnvoll erscheint (insofern die jeweiligen Schwellenwerte erfüllt werden).

Für bereits angemeldete Zusammenschlüsse bleibt die Kommission basierend auf Art. 92 Abs. 3 c des Austrittsabkommens zuständig. Diese Regelungstechnik – Anknüpfung an Zeitpunkt der Anmeldung – ist aus anderen Regelungszusammenhängen bekannt und hat sich grundsätzlich bewährt. Zu gewissen Rechtsunsicherheiten kann es jedoch kommen, wenn die Kommission, wie so oft üblich, in ausgedehnte Pre-notification-Kontakte einsteigt. Diese können sich oft über Monate hinziehen und zu langwierigen Diskussionen über die Frage führen, ob die Anmeldung vollständig und damit wirksam ist. Die Arbeitsebene der GD Wettbewerb der Kommission hat bereits signalisiert, dass sie hierbei großzügig und pragmatisch verfahren wird.

Die Kommission ist auch dann zuständig, wenn die Frist von 15 Arbeitstagen abgelaufen ist, ohne dass ein Mitgliedstaat, der nach seinem nationalen Wettbewerbsrecht für die Prüfung des Zusammenschlusses zuständig ist, die beantragte Verweisung an die Kommission abgelehnt hat (Art. 4 Abs. 5 FKVO) oder die Kommission die Prüfung des Zusammenschlusses beschließt beziehungsweise die Prüfung als beschlossen gilt (Art. 22 Abs. 3 FKVO).

Für eingegangene Verpflichtungen oder auferlegte Abhilfemaßnahmen, die in Großbritannien (oder in Zusammenhang mit Großbritannien) in Verbindung mit einem Fusionskontrollverfahren bei der Kommission eingegangen werden, gilt Gleiches wie bei Kartellverfahren. Dies bedeutet, dass diese grundsätzlich weiterhin von der Kommission überwacht und durchsetzt werden, wenn die Überwachung und Durchsetzung dieser Verpflichtungen oder Abhilfemaßnahmen nicht in Übereinstimmung mit der CMA an diese delegiert wurde (Art. 95 Abs. 2 des Austrittsabkommens).

Für die betroffenen Unternehmen ist der Wegfall des „One stop shop“ eine bittere Pille. Zahlreiche Beobachter gehen derzeit davon aus, dass die CMA durchaus selbstbewusst auftreten und in aufwändige Prüfungen eintreten wird – dies legen auch die Erfahrungen der letzten Monate nahe. Ob dies ein nachhaltiger Trend sein wird, bleibt allerdings fraglich, denn die britische Regierung hat sich grundsätzlich den Abbau von regulatorischen Hürden auf die Fahnen geschrieben. Und sie kann es sich bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage – ganz pragmatisch gesehen – kaum leisten, größere Investitionshemmnisse zu schaffen. Aber außer Zweifel steht, dass die Unternehmen künftig signifikante Kosten für britische Rechtsberater schultern müssen.

Beihilferecht

Die Beihilfenkontrolle in der Europäischen Union wird allein von der Kommission durchgeführt. Im Rahmen laufender Beihilfeverfahren verbleibt es gemäß Art. 92 Abs. 3 a des Austrittsabkommens bei der Zuständigkeit der Kommission, wenn bereits eine Fallnummer durch die Kommission zugewiesen wurde.

Art. 93 Abs. 1 des Austrittsabkommens erweitert die Zuständigkeit der Kommission auf Beihilfen, die vor Ende des Übergangszeitraums gewährt wurden. Im Hinblick auf diese Beihilfen kann die Kommission innerhalb von vier Jahren nach dem Ende des Übergangszeitraums auf Basis der Beihilfenverfahrensverordnung (VO (EU) 2015/1589) neue Beihilfeverfahren betreffend Großbritannien einleiten. Darüber hinaus verbleibt es bei der Zuständigkeit der Kommission auch nach Ende des Zeitraums von vier Jahren für die Verfahren, die vor Ende dieses Zeitraums eingeleitet wurden.

Durchaus kontrovers diskutiert wird bekanntlich die Frage, wie es sich mit der Kontrolle neuer Beihilfen nach Ablauf der Übergangsfrist verhalten soll. Sah die Politische Erklärung im Anhang des Austrittsabkommens (in Rn. 77) noch vor, dass die Parteien insbesondere einen „soliden und umfassenden Rahmen für Wettbewerb und Beihilfenkontrolle beibehalten“ sollen, der „übermäßige Beeinträchtigungen von Handel und Wettbewerb verhindert“, so ging aus verschiedenen Stellungnahmen der britischen Regierung im September und Oktober leider hervor, dass man sich an dieses Versprechen nicht mehr gebunden fühle.

In den letzten Wochen hat sich diese Verweigerungshaltung zwar wieder etwas aufgeweicht und man scheint zu einem Kompromiss zu kommen. Es lässt sich aber derzeit noch nicht absehen, wie sich Großbritannien im Rahmen der Beihilfenkontrolle post-Brexit aufstellen wird. Diskutiert werden unter anderem ein eigenes Kontrollregime in Großbritannien, überwacht durch die CMA, sowie die Festschreibung einiger inhaltlicher „High-level‘-Grundsätze im künftigen Freihandelsabkommen. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie mit Differenzen umgegangen werden soll, also der Streitbeilegungsmechanismus anzuwenden ist. Es bleibt daher abzuwarten, auf welchen Weg sich die EU und Großbritannien – wenn überhaupt – im Hinblick auf die Beihilfenkontrolle verständigen können.

Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs

Auch der EuGH wird nach Ende der Übergangsphase noch eine Rolle spielen. Nach Art. 95 Abs. 1 des Austrittsabkommens sind Entscheidungen, die vor Ende des Übergangszeitraums bzw. in den Verfahren nach Art. 92 und 93 des Austrittsabkommens nach Ende des Übergangszeitraums, erlassen werden und sich an Großbritannien oder an dort ansässige/niedergelassene natürliche und juristische Personen richten, für und in Großbritannien rechtsverbindlich. Sollte Großbritannien eine solche Entscheidung nicht umsetzen oder ihr keine Rechtswirksamkeit in seiner Rechtsordnung verleihen, obwohl sie sich an eine in Großbritannien ansässige/niedergelassene natürliche oder juristische Person richtet, kann sich die Kommission innerhalb von vier Jahren ab dem Tag der betreffenden Entscheidung an den EuGH wenden (Art. 87 Abs. 2 des Austrittsabkommens).

Fazit

Zum jetzigen Zeitpunkt ist immer noch unklar, wie die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien nach dem 31. Dezember 2020 aussehen werden. Ob es zu einem Freihandelsabkommen kommen wird und wenn ja, in welcher konkreten Ausgestaltung, lässt sich nur schwer absehen. Bis dahin wird allen Beteiligten nichts anderes übrigbleiben, als sich auf alle Szenarien vorzubereiten.

Die gute Nachricht ist, dass sich im Hinblick auf das Kartellrecht auf Basis der Regelungen des Austrittsabkommens zumindest gewisse Implikationen bereits jetzt abschätzen lassen. Unternehmen müssen diese Risiken und Auswirkungen vor Ende der Übergangszeit in ihre Vorbereitung miteinbeziehen. Ob sich durch das Freihandelsabkommen zusätzliche positive Impulse für das Kartellrecht ergeben werden, erscheint jedoch fraglich.

Auch in Bezug auf das Kartellrecht gilt also: Der Brexit kennt vor allem Verlierer. Das Auseinanderbrechen eines einheitlichen Kartellrechtsraumes führt zu höherer Rechtsunsicherheit und mehr Aufwand für die Unternehmen – auf beiden Seiten des Kanals.

 

Autoren: Ulrich Soltész, Christina Wolf

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