Compliance & Investigations

Das Modul C des Emittentenleitfadens: Präzisierung der Verwaltungspraxis zu Insiderrecht und Ad-hoc-Publizität

Im Juli 2019 legte die BaFin den von der Praxis lang erwarteten Konsultationsentwurf zu Modul C des neuen Emittentenleitfadens vor, in dem die Verwaltungspraxis zu Insiderrecht, Ad-hoc-Publizität und Managers‘ Transactions unter der EU-Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation – MAR) dargelegt wird. Am 22. April 2020 wurde die finale Fassung des Moduls C1 veröffentlicht. Die wesentlichen Neuerungen mit Blick auf Insiderrecht und Ad-hoc-Publizität werden im Folgenden dargestellt.

Der verständige Anleger

Das Kursbeeinflussungspotenzial – auch Kursrelevanz genannt – einer Information ist seit jeher aus der Ex-ante-Perspektive eines verständigen Anlegers zu bestimmen. Die BaFin versteht unter dem verständigen Anleger „einen durchschnittlich börsenkundigen Anleger, der seine Entscheidungen auf objektiv nachvollziehbarer Informationsgrundlage trifft.“ (Ziff. I.2.1.4.1). Ein besonderes Fachwissen sei zwar nicht erforderlich, der verständige Anleger sei aber mit den Grundzügen des Wertpapierhandels und des Unternehmensrechts vertraut. Dies entspricht dem in der Praxis gebräuchlichem Bild des „börsenerfahrenen Laien“. Einigkeit besteht auch darüber, dass ein verständiger Anleger im Rahmen seiner Anlageentscheidung alle öffentlich bekannten Informationen berücksichtigt und in einer Gesamtschau würdigt.

Seit den Ausführungen der BaFin in ihren FAQ zu Art. 17 MAR war indes unklar, ob der verständige Anleger stets rational und mit Gewinnerzielungsabsicht handelt oder ob zusätzlich spekulatives Anlageverhalten zu berücksichtigen ist. Die BaFin konnte in ihren FAQ nämlich so verstanden werden, dass ein verständiger Anleger in besonderen Fällen auch (i) ein an kurzfristigen Kursbewegungen ausgerichtetes, spekulatives Verhalten sowie (ii) ein ggf. sogar irrationales Verhalten anderer Marktteilnehmer berücksichtigen müsse. Diese Aussagen hat die BaFin im Modul C nach berechtigter Kritik aus der Praxis deutlich abgeschwächt: Ein verständiger Anleger berücksichtige auch, „wie aus seiner Erfahrung heraus andere Marktteilnehmer (d. h. das Anlegerpublikum) in der Vergangenheit auf vergleichbare Sachverhalte reagiert haben.“ Diese Aussage beschreibt ein rationales Anlageverhalten und liegt damit auf der Linie der bisherigen herrschenden Meinung.

Der zu Recht in der Praxis und in der Literatur im Vordringen befindlichen fundamentalwertorientierten Ermittlung des Kursbeeinflussungspotentials einer Information erteilt die BaFin hingegen eine inhaltlich nebulöse Einschränkung: Ein verständiger Anleger beziehe in seine Anlageentscheidung „nicht nur die zukünftige Finanz- und Ertragskraft des Unternehmens“ ein, sondern „ggf. auch weitere Faktoren, die – losgelöst von einer Änderung des Unternehmenswertes – auf den Kurs des Finanzinstruments einwirken können.“ Auf welche „weiteren Faktoren“ die BaFin an dieser Stelle abzielt, bleibt unklar. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die BaFin sich noch nicht vollends auf den noch verhältnismäßig jungen Fundamentalwertansatz einlassen wollte und sich mit der gewählten Formulierung eine „Hintertür“ offenhält. Es erscheint allerdings schwer vorstellbar, dass eine Information kursrelevant sein kann, ohne den Fundamentalwert des Emittenten zu tangieren.

Zwischenschritte als Insiderinformation

In gestreckten Sachverhalten können bekanntlich auch Zwischenschritte auf dem Weg zu einem Endereignis Insiderinformationen sein. Die BaFin differenziert zwei Typen von Zwischenschritten (Ziff. I.2.1.4.3): Solche, die ihre Qualität als Insiderinformation aus sich selbst heraus beziehen (Typ 1), und solche, die ihre Kursrelevanz vom zukünftigen Endereignis ableiten (Typ 2):

  • Ein Zwischenschritt des Typ 1 weise eine eigenständige, von der Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses losgelöste insiderrechtliche Relevanz auf.
  • Bei Zwischenschritten des Typ 2 sei ein Kursbeeinflussungspotenzial umso eher anzunehmen, je gewichtiger und wahrscheinlicher das Endereignis ist. Soweit das erstrebte Endereignis allerdings noch unwahrscheinlich sei, werde einem Zwischenschritt regelmäßig die Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung fehlen.

Zwischenschritte des Typ 1 sind in der Praxis selten. Als relevantes Beispiel dient immer wieder der Fall „Daimler/Geltl“, in dem es im Kern um die öffentlich nicht bekannte Amtsmüdigkeit des seinerzeitigen Vorstandsvorsitzenden von DaimlerChrysler ging, aus der ein verständiger Anleger nach Ansicht der Rechtsprechung eine sich abzeichnende wesentliche und damit kursrelevante Strategieänderung abgeleitet hätte.

Auf Zwischenschritte des Typ 2 scheint die BaFin die sog. „probability/magnitude“-Formel anwenden zu wollen. Entgegen einiger Stimmen im jüngeren Schrifttum ist dieser Ansatz mit Blick auf kapitalmarktökonomische Prinzipien nicht zu beanstanden. Bei der Beurteilung der Kursrelevanz eines Zwischenschritts wird ein verständiger Anleger naturgemäß auch solche zukünftigen Auswirkungen berücksichtigen, deren Eintritt zwar nicht überwiegend wahrscheinlich (aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen) sind, dafür aber im Fall ihres Eintritts besonders großen Einfluss auf den Fundamentalwert des Emittenten hätten.

M&A-Transaktionen

Bei M&A-Transaktionen ist wie bisher jeder einzelne Verfahrens- bzw. Zwischenschritt auf seine Insiderrelevanz zu prüfen. Aus Sicht der BaFin scheint vor allem entscheidend zu sein, ob bereits wesentliche Eckpunkte der möglichen Transaktion geklärt werden konnten oder sich im Rahmen des Prozesses auf sonstige Weise ein Einigungswille beider Parteien manifestiert. In diesen Fällen wird der Bereich der einseitigen Vorbereitungshandlungen verlassen. Dass sich die eigentlichen Vertragsverhandlungen noch anschließen oder der Kaufpreis als eine essentielle Vertragsbedingung noch nicht feststeht, soll der Insiderrelevanz nicht entgegenstehen. Zukünftige Transaktionen von überragender Bedeutung müssen daher bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf Insiderrelevanz geprüft werden.

Geschäftszahlen

Auch die Verwaltungspraxis zum insiderrechtlichen Umgang mit Geschäftszahlen wurde konkretisiert (Ziff. I.2.1.5.2). Lässt sich im Vorfeld der Aufstellung eines Finanzberichts die Größenordnung der relevanten Geschäftszahlen im Sinne eines Korridors bestimmen und ist bereits zu diesem Zeitpunkt zu erwarten, dass selbst die Zahlen am Rand des Korridors von dem maßgeblichen Vergleichsmaßstab (dazu sogleich) erheblich abweichen, liegt laut BaFin eine Insiderinformation vor.

Als Vergleichsmaßstab zieht die BaFin den etablierten dreistufigen Benchmark-Test aus (i) eigener veröffentlichten Prognose, (ii) Markterwartung (Consensus) und (iii) Vorjahreszahlen heran, allerdings nunmehr mit einer entscheidenden Änderung: Für den Fall, dass die Geschäftszahlen zwar einerseits von der eigenen Prognose abweichen, aber andererseits der deutlich aktuelleren Markterwartung entsprechen, sind die Geschäftszahlen nach Auffassung der BaFin nicht kursrelevant. Zur Ermittlung der Markterwartung zieht die BaFin den Mittelwert der aktuellen Analystenschätzungen (sog. Consensusschätzung) heran.

Um einen geeigneten Vergleichsmaßstab zu bilden, darf die eigene Prognose nach Auffassung der BaFin nicht zu vage oder unkonkret sein. Hat der Emittent in seiner Prognose einen Korridor angeben, muss dieser auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage ermittelt worden sein. In diesem Fall sei von Kursrelevanz auszugehen, wenn die Geschäftszahlen außerhalb des Korridors liegen. Für Geschäftszahlen, die innerhalb des Korridors liegen, gelte der Grundsatz: Je enger der Korridor gefasst sei, desto eher scheide eine Kursrelevanz aus. Das bedeute umgekehrt aber auch, dass die Geschäftszahlen kursrelevant sein können, wenn der Prognosekorridor sehr weit gefasst wurde und die Ergebnisse nahe am oberen bzw. unteren Korridorrand liegen.

Prognosen

Neben der Erstveröffentlichung einer Prognose kann auch die Anpassung einer bereits veröffentlichten Prognose eine Insiderinformation sein (Ziff. I.2.1.5.1). Hat der Emittent sowohl bei seiner ursprünglichen als auch bei seiner aktuellen Prognose einen nachvollziehbaren Korridor angegeben, innerhalb dessen er einen Gewinn oder Verlust erwartet, stellt die BaFin bei der Beurteilung der Kursrelevanz der aktualisierten Prognose in der Regel auf die Abweichung des Mittelwerts der alten Prognose von dem der aktualisierten Prognose ab. Wie bei Geschäftszahlen ist von der Kursrelevanz der neuen Prognose aber nur noch dann auszugehen, wenn die neue Prognose zusätzlich von der Markterwartung, d. h. der aktuellen Consensusschätzung, abweicht. Anders als noch im Konsultationsentwurf verlangt die BaFin nicht mehr, dass der Emittent eine von der veröffentlichten Prognose nachträglich abweichende Markterwartung zum Anlass nehmen muss, seine Prognose zu überprüfen. Ebenso wenig stellt die Aufrechterhaltung der Prognose im Regelfall eine Insiderinformation dar.

Zuständigkeit des Vorstands und Aufsichtsrats für Aufschubentscheidung

Die Zuständigkeit für den Aufschub der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung liegt grundsätzlich beim Gesamtvorstand. In der Praxis wird diese Aufgabe regelmäßig auf ein oder zwei Vorstandsmitglieder delegiert. Nach der bisherigen Verwaltungspraxis der BaFin, die weder im Aktien- noch im Kapitalmarktrecht eine Grundlage fand, musste an der Aufschubentscheidung immer mindestens ein Vorstandsmitglied beteiligt sein. Im Modul C verlangt die BaFin nur noch, dass mindestens ein Vorstandsmitglied an der Entscheidung mitwirken „sollte“ (Ziff. I.3.3.1.1). Falls die BaFin damit zum Ausdruck bringen will, dass die Mitwirkung eines Vorstandsmitglieds wünschenswert, aber nicht zwingend ist, wäre dies zu begrüßen. Bei der Formulierung der BaFin bleibt allerdings unklar, unter welchen Voraussetzungen eine Abweichung von dieser „Empfehlung“ aus Sicht der BaFin akzeptabel wäre und welche Folgen eine Nichtbeachtung hätte.

Bei originärer sachlicher Aufsichtsratszuständigkeit (z. B. bei der Besetzung des Vorstands) erkennt die BaFin nunmehr richtigerweise an, dass dem Aufsichtsrat eine abschließende Annexkompetenz im Hinblick auf die Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung der Insiderinformation zusteht (Ziff. I.3.3.1.1). Die Aufschubentscheidung ist im Rahmen eines Aufsichtsratsbeschlusses zu treffen; sie kann nach Auffassung der BaFin aber auch auf ein Ad-hoc-Gremium oder sogar ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied delegiert werden. Obwohl eine solche Delegationsmöglichkeit in der Praxis wünschenswert wäre, ist sie wegen der aktienrechtlich zwingenden Kompetenzordnung unzulässig. Da die Aufschubentscheidung aber an einen Aufsichtsratsausschuss (z. B. den Präsidial- oder Personalausschuss) delegiert werden kann, dürfe die fehlende Delegationsmöglichkeit an ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied in der Praxis zu verschmerzen sein.

Für die spätere Veröffentlichung der Insiderinformation bleibt der Vorstand zuständig. Es muss deshalb unternehmensintern sichergestellt werden, dass die Insiderinformation unverzüglich nach Wegfall der Aufschubvoraussetzungen vom Aufsichtsrat an den Vorstand übermittelt wird.

 

1 Nachfolgend wird auf die relevanten Stellen des Moduls C durch Angabe der entsprechenden Ziffer verwiesen.

Weiterleiten