Arbeitsrecht

Beschränkter Verweis auf Tarifvertrag – Inhaltskontrolle

Das BAG entschied mit Urteil vom 2. Juli 2025 – 10 AZR 162/24, dass arbeitsvertraglich in Bezug genommene tarifliche Regelungen der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterliegen, wenn der Arbeitsvertrag lediglich auf einzelne Regelungen oder Regelungskomplexe des Tarifvertrags verweist. Nur bei Globalverweisung auf den Tarifvertrag bestehe das Kontrollprivileg gemäß § 310 Abs. 4 S. 3 BGB.

Sachverhalt 

Ein nicht tarifgebundener Arbeitnehmer war als Rettungssanitäter beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag regelte, dass sich das Arbeitsverhältnis nach dem DRK-Reformtarifvertrag (RTV) bestimmt. Dieser gewährt tarifgebundenen Arbeitnehmern Anspruch auf eine Jahressonderzahlung, wenn diese am 1. Dezember eines Jahres in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber stehen und mindestens seit dem 1. Juni eines Jahres beschäftigt werden. Nach dem RTV ist die Jahressonderzahlung vom Arbeitnehmer zurückzuzahlen, wenn dieser bis einschließlich 31. März des Folgejahres aus eigenem Wunsch oder Verschulden aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Im Arbeitsvertrag des Klägers waren neben der Bezugnahmeklausel vom RTV abweichende, für den Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen (z.B. ein Zustimmungserfordernis für Nebentätigkeit und eine kürzere Ausschlussfrist) vereinbart.

Die Arbeitgeberin zahlte dem Arbeitnehmer im November 2021 die Jahressonderzahlung. Im Januar 2022 kündigte der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis zum 31. März 2022. Die Arbeitgeberin behielt daraufhin in den Monaten Januar, Februar und März Vergütung des Arbeitnehmers in Höhe der Jahressonderzahlung ein. 

Der Arbeitnehmer verklagte die Arbeitgeberin auf Zahlung von Arbeitsentgelt in Höhe der Jahressonderzahlung. 

Entscheidung

Der 10. Senat des BAG gab dem klagenden Arbeitnehmer Recht. Die Arbeitgeberin sei nicht berechtigt gewesen, die Vergütung in Höhe der Jahressonderzahlung einzubehalten. Ein Anspruch der Arbeitgeberin auf Rückzahlung der Jahressonderzahlung bestehe nicht. Die Rückzahlungsregelung im RTV halte einer Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB nicht stand, weil sie den Arbeitnehmer unangemessen nach § 307 Abs. 2 iVm Abs. 1 S. 1 BGB benachteilige. Das Kontrollprivileg des § 310 Abs. 4 S. 3 iVm § 307 Abs. 3 BGB sei nicht anwendbar. 

  • Nach § 310 Abs. 4 S. 1 und S. 3 BGB sind Tarifverträge von der AGB-Kontrolle durch die Arbeitsgerichte nach §§ 305 ff. BGB ausgenommen (sog. Kontrollprivileg). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis nicht normativ, also kraft Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien, sondern aufgrund individualvertraglicher Bezugnahme gelten. Das Kontrollprivileg greift nicht ein, soweit in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom Tarifvertrag abweichende oder diesen ergänzende Regelungen vereinbart werden (§§ 310 Abs. 4 S. 3 iVm § 307 Abs. 3 S.1 BGB). 

  • Nach Ansicht des BAG findet das Kontrollprivileg nach § 310 Abs. 4 S. 3 iVm § 307 Abs. 3 BGB nur Anwendung, wenn die Gesamtheit der Regelungen eines Tarifvertrags durch einen Globalverweis im Arbeitsvertrag in Bezug genommen werden. Verweisungen auf einzelne Normen oder Regelungskomplexe eines Tarifvertrags lösen nach Ansicht des BAG das Kontrollprivileg nicht aus. 

  • Bereits der Wortlaut von § 310 Abs. 4 S. 3 iVm § 307 Abs. 3 BGB („Abweichen von Rechtsvorschriften“) und die Gesetzessystematik sprächen für dieses Auslegungsergebnis. Auch die Entstehungsgeschichte sowie der Sinn und Zweck des Kontrollprivilegs sprächen für dieses Verständnis. Die AGB-Kontrolle durch die Gerichte solle grundsätzlich das Verhandlungsungleichgewicht von Vertragspartnern ausgleichen. Aufgrund der Verhandlungsparität der Tarifparteien könne bei Tarifverträgen grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass tarifliche Regelungen die Interessen beider Tarifvertragsparteien angemessen zum Ausdruck bringen. Diese Vermutung gilt nach Ansicht des BAG jedoch nur für das Gesamtwerk des Tarifvertrags, weil Tarifverträge ein Verhandlungskompromiss mit wechselseitigen Vor- und Nachteilen seien. 

  • Sowohl bei der Verweisung nur auf einzelne tarifliche Regelungen als auch nur auf einzelne zusammenhängende Regelungskomplexe eines Tarifvertrags besteht nach Ansicht des BAG die Gefahr der einseitigen Benachteiligung des Arbeitnehmers. Denn der Arbeitgeber könne in von ihm gestellten Vertragsbedingungen vorrangig auf für ihn vorteilhafte Bestimmungen verweisen.

  • Im vorliegenden Fall greife das Kontrollprivileg nicht, weil der Arbeitsvertrag der Parteien den RTV nicht insgesamt in Bezug nehme und die abweichenden Regelungen des Arbeitsvertrags auch nicht ausschließlich zugunsten des Klägers wirkten. Daher seien die arbeitsvertraglich in Bezug genommenen tariflichen Regelungen zur Jahressonderzahlung des RTV im Rahmen einer AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle auf ihre Angemessenheit zu überprüfen.

  • Nach Ansicht des BAG honoriert die Jahressonderzahlung im RTV zwar vergangene und künftige Betriebstreue, diene jedoch auch als Gegenleistung für bereits erbrachte Arbeit. Der Rückzahlungsvorbehalt stehe folglich im Widerspruch zum Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung, weil der Anspruch auf Zahlung verdienten Entgelts nach § 611a Abs. 2 BGB nicht davon abhängig sei, dass weitere Zwecke, wie die künftige Betriebstreue von Mitarbeitern, erfüllt werden. Darüber hinaus erschwere die Rückzahlungsklausel die Ausübung des Kündigungsrechts des Arbeitnehmers in unzulässiger Weise und benachteilige ihn damit unangemessen iSv § 307 Abs. 2 iVm Abs. 1 S. 1 BGB.

Gleiss Lutz kommentiert

Das BAG schafft Rechtsklarheit und entscheidet über den bislang ungeklärten Anwendungsbereich des Kontrollprivilegs nach § 310 Abs. 4 S. 3 iVm § 307 Abs. 3 BGB bei arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf in sich geschlossene Regelungsbereiche eines Tarifvertrags. Das Gericht schließt sich einer von Teilen des juristischen Schrifttums vertretenen engen Auslegung an. Danach eröffnen lediglich arbeitsvertragliche Globalverweisungen das Kontrollprivileg. Nimmt der Arbeitgeber dagegen nur auf einzelne tarifliche Regelungen oder Regelungsbereiche im Arbeitsvertrag Bezug, unterliegen diese der umfassenden AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle durch die Arbeitsgerichte.

Praktisch bedeutet das: Nehmen Arbeitgeber nicht den gesamten einschlägigen Tarifvertrag in den Arbeitsverträgen in Bezug, unterliegen einzelne Regelungen oder Regelungskomplexe im Streitfall der Inhaltskontrolle durch die Arbeitsgerichte. Arbeitgebern ist daher zu empfehlen, die Bezugnahmeklauseln in ihren Musterverträgen zu überprüfen und ggf. anzupassen. Sofern weiterhin lediglich einzelne Regelungen oder Regelungskomplexe eines Tarifvertrags arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden sollen, sollten besonders wichtige Regelungen wie beispielsweise Rückzahlungs- und Stichtagsklauseln sowie Ausschlussfristen ggf. überarbeitet und „kontrollfest“ ausgestaltet werden. 

Weiterleiten
Kompetenz
Keep in Touch

Keep in Touch
Gleiss Lutz informiert

Gerne nehmen wir Sie auf unseren Verteiler auf und informieren Sie über aktuelle Rechtsentwicklungen und Veranstaltungen.

Jetzt anmelden