Vergaberecht

Öffentliche Auftragsvergaben in Krisenzeiten

Die weltweite Corona-Pandemie stellt auch öffentliche Auftraggeber und Teilnehmer in Vergabeverfahren vor große Herausforderungen. Denn die Auswirkungen der Pandemie betreffen potentiell alle Phasen öffentlicher Beschaffung, von der Planung und Vorbereitung über die Durchführung bis hin zur Zuschlagserteilung und Vertragsdurchführung. Abweichungen vom vergaberechtlichen Regelwerk, welche Auftraggebern und potentiellen Auftragnehmern Erleichterungen bieten, kommen unter den gegebenen Umständen zwar grundsätzlich eher in Betracht als außerhalb von Krisenzeiten, bedürfen jedoch stets einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall.

Abweichungen von den „Regelverfahren“

So können Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach den „Dringlichkeitstatbeständen“ Anwendung finden, die für alle Arten von Vergabeverfahren im Oberschwellenbereich (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, § 13 Abs. 2 Nr. 4 SektVO, § 12 Abs. 1 Nr. 1 VSVgV) und im Unterschwellenbereich (§ 8 Abs. 4 Nr. 9, § 12 Abs. 3 UVgO) normiert sind. Es kommt jedoch darauf an, ob es tatsächlich um einen „dringenden“ Beschaffungsbedarf geht, was sich etwa bei medizinischem Bedarf (Gesichtsmasken, Schutzanzüge, Desinfektionsmittel, andere Hilfs- oder auch Arzneimittel), unerwartet gestiegenem Bedarf infolge der Pandemie-Auswirkungen (z. B. für die kurzfristige Einrichtung von mobilem Arbeiten/Home Office) oder bei der kurzfristigen Sicherstellung der Grundversorgung (z. B. für soziale Träger) rechtfertigen lässt, nicht aber pauschal für sämtliche Beschaffungen. Denn alleine, dass es „schnell“ gehen soll, ist auch in Krisenzeiten kein hinreichendes Argument. Die Darlegungslast für das Vorliegen der Dringlichkeitsvoraussetzungen liegt grundsätzlich beim öffentlichen Auftraggeber. Die oben genannten Beispiele sind aber nicht abschließend, wie auch im Rundschreiben des BMWi vom 19. März 2020 an die Bundesressorts, Länder und kommunalen Spitzenverbände betont wird.

Auch kann es im Einzelfall zulässig sein, dass der öffentliche Auftraggeber nur mit einem Bieter verhandelt. Dies ist aber mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben im Oberschwellenbereich die Ausnahme (etwa dann, wenn von vornherein klar ist, dass nur ein einziges Unternehmen in der Kürze der Zeit hinreichend sicher und schnell leistungsfähig sein wird). Im Unterschwellenbereich sind Verhandlungen mit nur einem Bieter bzw. „Direktvergaben“ hingegen nunmehr aus Dringlichkeitsgründen regelmäßig möglich (§ 12 Abs. 3 UVgO), wenn die Beschaffung der Eindämmung und Bewältigung der Corona-Pandemie dient.

Den aus verschiedenen Richtungen verlautbarten Forderungen nach Vereinfachungen gerade im Unterschwellenbereich ist etwa bereits der Freistaat Bayern mit einer Verwaltungsvorschrift vom 25. März 2020 nachgekommen, mit welcher bis zum 30. Juni 2020 u. a. bestimmte Wertgrenzen eingeführt werden, bis zu denen Direktaufträge gemäß § 14 UVgO vergeben und Verhandlungsvergaben oder Beschränkte Ausschreibungen auch ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt werden dürfen. Und das Land Rheinland-Pfalz hat am 20. März 2020 für Liefer-, Dienst- und Bauleistungen, die unmittelbar oder mittelbar zur Eindämmung der Corona-Pandemie beitragen, grundsätzlich die Vergabe im Wege des Direktauftrags gestattet. Andere Bundesländer könnten diesen Beispielen folgen.

Für den Oberschwellenbereich hat die Europäische Kommission am 1. April 2020 reagiert und mit ihrer Mitteilung (2020/C 108 I/01) Leitlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die Corona-Pandemie verursachten Situation herausgegeben. Darin werden neben praktischen Tipps insbesondere abgestufte vergaberechtliche Maßnahmen vorgeschlagen, bestehend aus Fristverkürzungen (dazu sogleich), Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichungen bzw. Direktvergaben oder die unmittelbare Beteiligung öffentlicher Auftraggeber am Markt. Die Kommission erteilt öffentlichen Auftraggebern jedoch keinen Freibrief und geht im Ergebnis davon aus, dass das bestehende Vergaberecht hinreichend Flexibilität ermöglicht. Privilegiert sieht sie offenbar vor allem den Bedarf von Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen zur Behandlung von Corona-Patienten. Wichtig bleibt deshalb vor allem, Dringlichkeitstatbestände einzelfallbezogen und konkret festzustellen, zu begründen und zu dokumentieren.

Fristverkürzungen und weitere Verfahrenserleichterungen

Die bei besonderen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen, ohnehin bestehenden Möglichkeiten zu Verfahrenserleichterungen (etwa Fristverkürzungen) können selbstverständlich auch und gerade jetzt genutzt werden (§ 130 GWB, §§ 64 ff. VgV).

Im Übrigen kommen Verkürzungen von Teilnahme- und Angebotsfristen auf 10 bzw. 15 Tage beim Verhandlungsverfahren mit bzw. ohne Teilnahmewettbewerb (§ 17 Abs. 3, 8 VgV) bzw. auf 15 Tage Angebotsfrist gem. § 15 Abs. 3 VgV beim offenen Verfahren in Betracht. Beim dringlichkeitsbegründeten Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb können sogar noch weitergehende Reduzierungen möglich sein.

Auftraggeber sollten bei der Festlegung der Verfahrensausgestaltung schon im Eigeninteresse Maßnahmen vermeiden, welche die Leistungsfähigkeit der Bieter unnötig strapazieren (etwa durch die erzwungene Vorlage aufwändiger Referenzen, Finanzierungsbestätigungen und sehr hoher Sicherungsmittel).

Vergaberechtsgrundsätze gelten weiterhin

Bei alledem ist daran zu denken, dass die vergaberechtlichen Grundsätze (Wettbewerb, Gleichbehandlung, Transparenz und Nichtdiskriminierung) europarechtlich harmonisierte Vorgaben darstellen, deren Kern nicht im nationalen Alleingang außer Kraft gesetzt werden kann. Aus diesem Grund sind etwa trotz der Corona-Krise Bekanntmachungspflichten sowie die Dokumentationspflichten zu allen dringlichkeitsbedingten Entscheidungen, mit denen vom vergaberechtlichen „Standardfall“ abgewichen wird, zu beachten.

Auftragsänderungen und Verhandlungen

Öffentlichen Auftraggebern und Bestands-Auftragnehmern stehen darüber hinaus weitere Möglichkeiten zur Verfügung, um geändertem oder zusätzlichem Beschaffungsbedarf Rechnung zu tragen. Sollte es nicht möglich sein, vertraglich vereinbarte Verlängerungsoptionen oder andere Optionsrechte zu nutzen (was im Einzelfall primär zu prüfen ist!) oder bei Rahmenverträgen das vereinbarte Volumen vollständig auszuschöpfen oder anzupassen, kann die Anpassung oder Ausweitung laufender Verträge möglich sein (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB). In diesem Zuge sind auch Vertragsverlängerungen möglich.

Beide Seiten müssen jedoch mit Blick auf die Rechtswirksamkeit solcher Änderungen auf die Einhaltung der grundsätzlichen Einschränkungen achten, wonach der Gesamtcharakter des Auftrags sich nicht ändern darf. Ferner gilt für Preiserhöhungen weiterhin die 50 %-Grenze des § 132 Abs. 2 Satz 2 GWB.

Darüber hinaus sollten sich die Vertragspartner öffentlicher Aufträge bei drohenden Lieferengpässen oder -verzögerungen, die durch die Corona-Pandemie bedingt sind, frühzeitig abstimmen (und dies dokumentieren), ob negative Rechtsfolgen wie Kündigungen oder Schadensersatzansprüche nicht auszusetzen sein können, auch mit Blick auf die zukünftige Teilnahme des Auftragnehmers an Vergabeverfahren (§ 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB). Zum zivilrechtlichen Haftungsregime und zu (nicht) zu vertretenden Leistungshindernissen sei auf den Beitrag „Auswirkungen des Corona-Virus auf Lieferverträge“ verwiesen.

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