Arbeitsrecht

EuGH: Zeitpunkt der Entstehung der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen

In einer Entscheidung aus Februar 2024 hat der EuGH erneut zu der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16; nachfolgend: MERL) entschieden (Urteil vom 22. Februar 2024, C-589/22). Er beschäftigte sich mit dem Zeitpunkt, in dem die Verpflichtung für Arbeitgeber entsteht, die Massenentlassung bei der Arbeitnehmervertretung anzuzeigen und das Konsultationsverfahren einzuleiten. Die Entscheidung werden Arbeitgeber künftig zu berücksichtigen haben, wenn Restrukturierungsüberlegungen anstehen.

Sachverhalt

Vor dem spanischen Tribunal Superior de Justicia de las Islas Baleares (Obergericht der Balearischen Inseln, Spanien, nachfolgend: Tribunal Superior) stritten zwei Beschäftigte mit der Beklagten, einer spanischen Hotelbetreiberin mit 20 Hotels, über die Wirksamkeit der ihnen gegenüber ausgesprochenen Kündigungen ihrer Arbeitsverhältnisse. Die Beklagte beschäftigte im September 2019 43 Arbeitnehmer an ihrem Sitz für zentrale Dienste. Zwischen August und Dezember 2019 gab die Beklagte 13 der 20 Hotels ab. Sieben dieser Hotels gehörten einer Unternehmensgruppe an, deren Betrieb zum 1. Januar 2020 auf eine Konzerngesellschaft übergehen sollte. Die Beklagte fragte bei allen an ihrem Sitz tätigen Mitarbeitern an, ob sie bereit wären, Gespräche mit der Unternehmensgruppe über einen Wechsel zu führen. Ziel der Gespräche war die Besetzung von zehn Arbeitsplätzen, die der neue Betreiber infolge der Zunahme der Arbeitsbelastung seiner zentralen Dienste nach der Übernahme der sieben Hotels benötigte. Neun Mitarbeiter schieden in der Folge freiwillig aus und unterzeichneten Arbeitsverträge mit einer Konzerngesellschaft, zwei weitere Mitarbeiter schieden aus anderen Gründen aus. Gegenüber neun von insgesamt 32 der im Januar 2020 noch bei der Beklagten verbliebenen Mitarbeitern, darunter auch die beiden Kläger, sprach sie Kündigungen aus. Die Kläger erhoben Klage und machten geltend, die Beklagte habe ein Massenentlassungsverfahren einleiten müssen. Die Beklagte habe das freiwillige Ausscheiden der Mitarbeiter „künstlich gefördert“, um zu verhindern, dass der maßgebliche Schwellenwert (mind. zehn Mitarbeiter innerhalb von 90 Tagen) erreicht werde. Die Beklagte vertrat die Auffassung, der Schwellenwert sei nicht erreicht, da die freiwillig ausgeschiedenen Mitarbeiter nicht mitzuzählen seien. Das freiwillige Ausscheiden sei bei ihrer Entscheidung, die neun Arbeitsverhältnisse zu kündigen, nicht berücksichtigt worden. Zum Zeitpunkt der Kündigungsentscheidung sei ausschließlich die Analyse ihres organisatorischen und produktionsbezogenen Bedarfs nach der Übernahme eines Teils des Personals durch die Unternehmensgruppe maßgeblich gewesen. Das Gericht erster Instanz wies die Klagen ab. Das Tribunal Superior legte dem EuGH zwei Fragen, zum einen zum Zeitpunkt des Entstehens der Konsultations- und Meldepflicht sowie zum anderen zur Einordnung des freiwilligen Ausscheidens als Entlassung, zur Vorabentscheidung vor.

Entscheidung des EuGHs

Der EuGH entschied nur über die erste Vorlagefrage und konnte die zweite Frage offenlassen:

  • Der EuGH wies darauf hin, dass die Konsultations- und Anzeigepflichten vor einer Entscheidung des Arbeitgebers zur Kündigung von Arbeitsverträgen entstehen. Das Ziel von Art. 2 Abs. 2 MERL ließe sich nicht erreichen, wenn die Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der Entscheidung des Arbeitgebers stattfände, die Arbeitsverträge zu kündigen. Das Konsultationsverfahren müsse in dem Zeitpunkt eröffnet worden sein, zu dem eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen worden ist, die den Arbeitgeber dazu zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen. Der EuGH verwies in diesem Zusammenhang auf zwei frühere Entscheidungen (Urteil vom 21. September 2017, C-429/16 – Ciupa, sowie vom 10. September 2009, C-44/08 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK), in denen es um wirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen ging, die nicht unmittelbar auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen abzielten, sich aber doch auf die Anzahl beschäftigter Arbeitnehmer habe auswirken können.
  • Zum maßgeblichen Zeitpunkt führte der EuGH auf der einen Seite aus, dass ein vorzeitiges Entstehen der Konsultationspflicht zur Einschränkung der Flexibilität von Unternehmen bei der Umstrukturierung, zur Verschärfung administrativer Zwänge sowie zur Verunsicherung der Arbeitnehmer ohne hinreichenden Anlass führen könne. Die Ziele des Konsultationsverfahrens (Vermeidung von Kündigungen und Milderung ihrer Folgen) seien zudem nur dann zu erreichen, wenn die einschlägigen Faktoren und Kriterien für die beabsichtigte Massenentlassung festgelegt seien. Sei eine Entscheidung, von der angenommen wird, dass sie (wahrscheinlich) zu Massenentlassungen führen wird, nur beabsichtigt und die relevanten Faktoren nicht bekannt, könnten die Ziele nicht erreicht werden. Auf der anderen Seite könne sich eine Konsultation, die erst beginnt, wenn bereits eine Entscheidung getroffen sei, die solche Massenentlassungen notwendig macht, nicht mehr auf das Prüfen von Alternativen erstrecken, um die Entlassungen zu vermeiden. 
  • Mit der Reduzierung selbst verwalteter Hotels und den getroffenen Vereinbarungen sei eine Änderung der Verwaltungs- und Betriebstätigkeit der Beklagten in großem Umfang eingetreten. Der EuGH meint hierzu, dass die Entscheidung darüber, Gespräche über diese Übertragung aufzunehmen, bereits eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung sein könne, die die Beklagte dazu gezwungen habe, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen. Dies sei jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen.
  • Die Beklagte habe gewusst, dass die Übertragung der Hotelverwaltung auf die Konzerngesellschaft dort zu einer Zunahme der Arbeitsbelastung und gleichzeitig zu einem Rückgang bei ihr führen würde. Aufgrund ihrer Analyse des organisatorischen und produktionsbezogenen Bedarfs habe die Beklagte vernünftigerweise damit rechnen müssen, dass sie die Zahl der Arbeitnehmer an ihrem Sitz deutlich verringern müsse, damit sie dem Umfang ihrer Tätigkeit und der verbleibenden Arbeitsbelastung noch angemessen ist. Nach dem EuGH bedeutete die Entscheidung, die Tätigkeit der Verwaltung und des Betriebs der sieben Hotels auf die Konzerngesellschaft zu übertragen, notwendigerweise, dass sie Massenentlassungen habe ins Auge fassen müssen. Soweit die Möglichkeit bestand, dass eine Massenentlassung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der MERL vorliege, habe die Beklagte die Konsultation durchführen müssen. Das führte der EuGH auch auf eine Kontrollüberlegung zurück: Die Konsultationspflicht einerseits und die Befragung der Arbeitnehmer über die Aufnahme von Gesprächen mit der Konzerngesellschaft über Anschlussbeschäftigungen andererseits verfolgten zu einem Großteil den gleichen Zweck (Vermeidung von Massenentlassungen).

Gleiss Lutz kommentiert

Das Konsultationsverfahren bei Massenentlassungen bleibt für Arbeitgeber ein anspruchsvolles Feld. Der EuGH zeigt den Rahmen für den Zeitpunkt auf: Die finale Entscheidung über die Massenentlassungen darf noch nicht getroffen worden sein. Die Konsultation muss aber zugleich sinnvoll durchführbar sein. Das ist nur dann der Fall, wenn die Faktoren und Kriterien bereits so konkret sind, dass im Konsultationsverfahren über die Vermeidung von Kündigungen und der Milderung ihrer Folgen gesprochen werden kann. Es bleibt für die Praxis schwierig, den maßgeblichen Zeitpunkt zu identifizieren, an dem das Konsultationsverfahren einzuleiten ist. Das Urteil zeigt, dass es nicht darauf ankommt, ob die wirtschaftliche oder strategische Entscheidung unmittelbar auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen bezogen ist. Es reicht aus, wenn die unternehmerische Entscheidung erkennbar Auswirkungen auf die Beschäftigung von Arbeitnehmern hat. Ob der Arbeitgeber versucht, die Beendigungen noch abzuwenden oder zahlenmäßig zu reduzieren, ist nicht maßgeblich. Das Recht der Massenentlassung bleibt damit weiter in Bewegung. Vergangenes Jahr hatte der EuGH bereits entschieden, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der Agentur für Arbeit Abschriften der das Konsultationsverfahren einleitenden Mitteilung zu übermitteln, keinen Individualschutz bezweckt (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023, C-134/22 – M.O./S.M, Beitrag vom 26. Juli 2023). Weitere Fragen des BAG, u.a., ob eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung führen muss, liegen derzeit noch beim EuGH (BAG, Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A), Beitrag vom 25. Februar 2024).

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