Arbeitsrecht

Zuständigkeit bei Massenentlassungsanzeigen

Der Betriebsbegriff in § 17 Abs. 1 KSchG ist durch die Richtlinie 98/59/EG bestimmt. Für eine Massenentlassungsanzeige ist – unabhängig vom Sitz des Arbeitgebers – die Agentur für Arbeit zuständig, in deren Bezirk die Auswirkungen der Massenentlassung auftreten.

BAG, Urteile vom 13. und 27. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 und 8 AZR 215/19

Sachverhalt

Die Kläger in beiden Verfahren waren Flugkapitäne bei Air Berlin. Air Berlin unterhielt an verschiedenen Flughäfen sogenannte Stationen, denen jeweils Personal für die Bereiche Boden, Kabine und Cockpit zugeordnet war. Einer der Kläger war am Einsatzort Düsseldorf beschäftigt, der andere in Köln. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahren erhielten die Kläger Ende November 2017 betriebsbedingte Kündigungen wegen Stilllegung des Flugbetriebs. Die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige erstattete Air Berlin bei der für ihren Sitz zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Dabei ging sie von einem bundesweiten „Betrieb Cockpit“ aus und erstattete die Anzeige bezogen auf das gesamte in Deutschland beschäftigte Cockpit-Personal. Grund dafür war eine tarifvertragliche Vereinbarung über organisatorisch getrennte Arbeitnehmervertretungen für das Boden-, Kabinen- und Cockpit-Personal sowie die zentrale Steuerung des Flugbetriebs mit jeweils bundesweiter Zuständigkeit. Mit ihren Klagen wandten sich die Kläger gegen die Wirksamkeit der Kündigungen.

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

Die Revisionen der Kläger gegen die ablehnenden Entscheidungen der Vorinstanzen hatten Erfolg. Nach den Urteilen des 6. und 8. Senats, die bisher nur als Pressemitteilungen vorliegen, war die Massenentlassungsanzeige an eine örtlich unzuständige Agentur für Arbeit gerichtet. Wo die Anzeige zu erstatten sei, folge aus dem Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG. Dieser müsse im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie 98/59/EG („Massenentlassungsrichtlinie“) ausgelegt werden. Danach seien auch die einzelnen Stationen der Air Berlin Betriebe im Sinne des § 17 Abs. 1 KSchG. Folglich hätten Massenentlassungsanzeigen bei den Agenturen für Arbeit in Düsseldorf und Köln erstattet werden müssen. Dort würden bei typisierender Betrachtung die Folgen der Massenentlassungen auftreten. Die Anzeigen hätten sich zudem auf alle zu entlassenden Arbeitnehmer eines Betriebs – d. h. auch auf das Boden- und Kabinen-Personal – beziehen müssen. Die Anzeige war somit auch deshalb nicht ordnungsgemäß, weil erforderliche Angaben fehlten. Die Kündigungen seien nach §§ 17 Abs. 1 KSchG, 134 BGB unwirksam.

Einordnung in bisherige Rechtsprechung

Bisher hat das BAG bei der Prüfung, ob und wo eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten ist, grundsätzlich auf den betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff abgestellt. Gelte ein Betriebsteil wegen räumlich weiter Entfernung oder organisatorischer Eigenständigkeit nach § 4 Abs. 1 BetrVG als selbständig, sei er auch ein Betrieb im Sinne von § 17 Abs. 1 KSchG (BAG vom 25. April 2013 – 6 AZR 49/12; vom 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11). Der EuGH geht bei Anwendung der Massenentlassungsrichtlinie dagegen von einem einheitlichen unionsrechtlichen Betriebsbegriff aus. „Betrieb“ bezeichne die Einheit, der die von einer Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören. Diese Einheit müsse weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen. Ob sie über eine zu Entlassungen befugte Leitung verfüge, sei ebenfalls irrelevant (EuGH vom 26. Oktober 2006 – C-270/05 [Athinaïki Chartopoïïa]).

Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, eine Niederlassung könne nach der Definition des EuGH auch dann ein Betrieb im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie sein, wenn sie die Kriterien des § 4 Abs. 1 BetrVG nicht erfüllt (z.B. APS/Moll, § 17 KSchG Rn. 8; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn. 10; Salamon, NZA 2015, 789). Das deutsche Betriebsverfassungsrecht sei für den unionsrechtlichen Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG nicht maßgeblich. Soweit die Pressemitteilungen es erkennen lassen, schließt sich das BAG dieser Sichtweise jetzt an. Ohne auf betriebsverfassungsrechtliche Definitionen zurückzugreifen, spricht das BAG von einem „unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG“ und entwickelt seine Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige damit weiter.

Gleiss Lutz kommentiert

Fehler bei der Erstattung einer Massenentlassungsanzeige sollten unbedingt vermieden werden, da sie zur Unwirksamkeit aller davon erfassten Kündigungen führen. Je nach Struktur eines Unternehmens kann es in der Praxis allerdings schwierig sein, den nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgeblichen Betrieb zutreffend zu bestimmen. Auch das derzeit im Internet abrufbare Merkblatt der Bundesagentur für Arbeit („BA“) zum Thema „Anzeigepflichtige Entlassungen“ hilft nur begrenzt, erlaubt es Unternehmen mit bundesweitem Filialnetz doch ausdrücklich eine Anzeigeerstattung am Unternehmenssitz. Die aktuellen Entscheidungen zeigen, dass das BAG offenbar weder aus seiner bisherigen Rechtsprechung noch aus den Informationen der BA einen Vertrauensschutz für Arbeitgeber herleitet.

Einen denkbaren Ausweg für den Fall, dass auch nach sorgfältiger rechtlicher Prüfung noch Unklarheiten verbleiben, hat das BAG in einer Entscheidung vom 22. September 2016 (2 AZR 276/16) aufgezeigt: Der Arbeitgeber könne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeigen bei allen in Betracht kommenden Agenturen für Arbeit erstatten und dabei auf die mehrfache Einreichung hinweisen. Dann sei es Sache der Behörden, sich über die örtliche Zuständigkeit abzustimmen. Allerdings hat das BAG offengelassen, ob diese im entschiedenen Fall gebilligte Vorgehensweise auch in anderen Konstellationen zulässig ist.

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