Arbeitsrecht

Arbeitgeber muss Streikmobilisierungsmaßnahmen auf Betriebsparkplatz im Einzelfall dulden

Eine einzelfallbezogene Pflicht des Arbeitgebers, Streikmobilisierungsmaßnahmen der Gewerkschaft auf dem Betriebsparkplatz zu dulden, verletzt ihn nicht in seinem durch Art. 14 GG geschützten Hausrecht.

BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2020 – 1 BvR 719/19, 1 BvR 720/19

Sachverhalt

In den Jahren 2014/2015 kam es bei den zwei beschwerdeführenden, nicht tarifgebundenen Arbeitgeberinnen zu gewerkschaftsinitiierten Streiks mit dem Ziel, Anerkennungstarifverträgen für die jeweils geltenden Tarifverträge des Einzel- und Versandhandels zu erwirken. Streikende Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter versammelten sich an einzelnen Streiktagen auf den Betriebsparkplätzen und forderten Arbeitnehmer, unter anderem durch das Verteilen von Flyern, zur Streikteilnahme auf. Die Betriebe lagen jeweils außerhalb von Ortschaften in Gewerbegebieten. Um in das Betriebsgebäude zu gelangen, mussten die Arbeitnehmer die als Privatgrundstück gekennzeichneten Betriebsparkplätze von erheblicher Größe überqueren und während der Streikmobilisierungsmaßnahmen auf den Betriebsparkplätzen an den Streikenden vorbeigehen.  

Die Arbeitgeberinnen beantragten gerichtlich die Unterlassung von Versammlungen auf den zu den Betriebsgeländen gehörenden Parkplätzen. Das BAG wies die Anträge zurück (Urteile vom 20. November 2018 – 1 AZR 12/17, 1 AZR 189/17).

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden gegen die Urteile des BAG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Beide wurden, ausführlich begründet, nicht zur Entscheidung angenommen, aber dennoch faktisch entschieden und im Rahmen des Nichtannahmebeschlusses für unbegründet erklärt.

Das BVerfG führt u. a. aus, dass die Ablehnung von possessorischen und deliktischen Besitzschutzansprüchen der Arbeitgeberinnen auf Grundlage des Hausrechts durch das BAG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Den Ansprüchen stehe das grundrechtlich in der Koalitionsfreiheit verankerte Streikrecht der Gewerkschaften entgegen. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit umfasse auch das Recht der Gewerkschaften, arbeitswillige Arbeitnehmer persönlich zur Streikteilnahme aufzufordern. 

Im Wesentlichen beruht der Beschluss des BVerfG auf folgenden Erwägungen:

  • Wenn eine Ansprache der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaft auf öffentlichen Plätzen aufgrund der Lage der Betriebsgelände nicht möglich sei, würde die Ausübung des Hausrechts mangels der Nutzungsmöglichkeit öffentlicher Flächen zur Unmöglichkeit einer Streikmobilisierung führen. Dann aber würde das grundrechtlich gewährleistete Arbeitskampfrecht der Gewerkschaften gänzlich durch das Hausrecht der Arbeitgeberinnen verdrängt.
  • Es sei zu berücksichtigen, dass Arbeitgeber die Entscheidungsmacht über die Lage des Betriebsgeländes hätten. Würde Arbeitgebern die Möglichkeit eröffnet, Arbeitskampfmaßnahmen durch die Wahl der Lage des Betriebs zu verhindern, so bestünde die Gefahr, dass das Arbeitskampfrecht der Gewerkschaften durch die Standortwahl eines Betriebs einseitig ausgehöhlt würde.
  • Die Rechtmäßigkeit der Streikmobilisierungsmaßnahmen sei daran geknüpft, dass die Nutzung eines Betriebsparkplatzes in einem zeitlich engen Zusammenhang mit der Ansprache der Arbeitnehmer stehen müsse. In den vom BAG entschiedenen Fällen fand die Streikmobilisierung der Arbeitnehmer zu Zeiten des Schichtbeginns und Schichtwechsels statt.

Gleiss Lutz kommentiert

Der Beschluss des BVerfG unterstreicht, dass die Zulässigkeit von Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände des Arbeitgebers davon abhängt, dass aufgrund der örtlichen Gegebenheiten des Einzelfalls keine realistische andere Möglichkeit besteht, Arbeitswillige im Zuge des Arbeitskampfes zu erreichen. Arbeitgeber können nach den vom BVerfG bestätigten Entscheidungen des BAG damit nicht von den tatsächlichen Gegebenheiten ihres Betriebsgeländes profitieren. Die Prämisse, dass die Ausübung des Streikrechts einer Gewerkschaft davon abhängt, Arbeitswillige unmittelbar vor Arbeitsantritt erreichen zu können, kann freilich hinterfragt werden.

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