Kartellrecht

CK Telecoms/Hutchinson-Urteil des EuG: Konsequenzen für „4 zu 3“-Fusionen und den SIEC-Test

Die Entscheidung des EuG vom 28. Mai 2020 iS CK Telecoms dürfte die Chancen auf eine fusionskontrollrechtliche Freigabe in konzentrierten Märkten verbessern. Die Anforderungen an eine Untersagung unterhalb der Marktbeherrschung steigen. Die Europäische Kommission muss künftig höheren Darlegungs- und Beweisanforderungen genügen als nach ihrer bisherigen Praxis. Dies wird vermutlich bei Zusammenschlussparteien und Kommission den Verfahrensaufwand intensivieren.

EuG, Urteil vom 28. Mai 2020, Rs. T-399/16, CK Telecoms UK Investments Ltd, ECLI:EU:T:2020:217

Bisher grundsätzlich schlechte Freigabechancen für „4 zu 3“-Fusionen

Angesichts der bisherigen Entscheidungspraxis und den Leitlinien der Kommission für die Beurteilung von Zusammenschlüssen waren die Freigabechancen für „4 zu 3“-Fusionen, also in engen oligopolistischen Märkten, bislang gering. Etwas besser waren die Chancen nur, wenn es faktisch möglich war und bei den Zusammenschlussparteien die Bereitschaft bestand, sehr umfangreiche Auflagen und Bedingungen zu akzeptieren. In einzelnen Branchen wie der Telekommunikation oder klassischen Industrieprodukten war der Trend zu Untersagungen oder strengen Auflagen besonders ausgeprägt. Die Kommission erachtete es für eine Untersagung oftmals als ausreichend, wenn  

  • der Zusammenschluss eine wichtige Wettbewerbskraft beseitigte,
  • deren Wegfall den Wettbewerbsdruck zwischen den verbleibenden drei Marktteilnehmern verminderte.

Diese Voraussetzungen ohne zusätzliche Beweise zu konkreten Wettbewerbsbedenken hat das EuG als unzureichend abgelehnt. Ein solcher Maßstab würde dazu führen, dass jeder Zusammenschluss in einem stark konzentrierten Markt ohne Weiteres untersagt werden könnte.

Höhere Untersagungshürden

Das EuG hat mit seiner Entscheidung gezielt Grenzen für den SIEC-Test in engen oligopolistischen Märkten unterhalb des gesetzlichen Regelbeispiels der Marktbeherrschung gesetzt. Es befand zunächst, dass eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs ähnlich schwerwiegende Folgen für den Wettbewerb haben müsse, wie es beim Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung der Fall ist. Eine Untersagung wegen einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs sei deshalb nur möglich, wenn durch den Zusammenschluss ein Unternehmen wegfällt, das den Verhaltensspielraum der anderen Marktteilnehmer erheblich beschränkt. Diese Eigenschaft muss sich aus den spezifischen Eigenschaften des „wegfallenden“ Unternehmens ergeben. Seine Wettbewerbsbedeutung im Sinne einer wettbewerblich wichtigen Kraft muss es aus den übrigen Marktteilnehmern herausragen lassen, so dass sein Wegfall erheblichen Wettbewerbsdruck beseitige. Das könne sich insbesondere daraus ergeben, dass

  • das Zielunternehmen mit Marktanteilszuwächsen weit über seinen bisherigen Marktanteil hinaus eine zentrale Ausweichalternative darstellt (Rz. 179 bis 190 des Urteils);
  • das Zielunternehmen mit einer bereits relativ starken Marktposition kontinuierlich und erheblich stärker wächst als seine Wettbewerber. Ein solches Unternehmen kann sich ebenfalls als eine zentrale Ausweichalternative erweisen (Rz. 191 bis 198).
  • das Zielunternehmen eine nachhaltig preisaggressive Marktstrategie verfolgt und über alle Marktsegmente hinweg die Wettbewerbsdynamik nachhaltig und erheblich verändert (Rz. 209 bis 224).
  • eine besondere wettbewerbliche Nähe zwischen den sich zusammenschließenden Unternehmen besteht, weil ihre Produkte zueinander in besonders intensivem Wettbewerb stehen, sich ihre Eigenschaften in besonderem Maße ähneln und sie deshalb für die Abnehmer der Unternehmen die wichtigsten Austauschalternativen sind. In einem solchen Fall führt ein Zusammenschluss zum Wegfall wesentlicher wettbewerblicher Schranken, welche die Zusammenschlussbeteiligten aufeinander ausgeübt haben, d.h. der typischsten und unmittelbarsten Form unilateraler Effekte. Das muss aber für den gesamten Markt gelten, nicht nur für einzelne Marktsegmente. Auch genügt es nicht, wenn die beiden Unternehmen nur relativ nahe Wettbewerber sind, d.h. im Vergleich zu anderen Marktteilnehmern einander wettbewerblich etwas näherstehen (Rz. 234 bis 250).
  • infolge des Zusammenschlusses mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Preise auf dem betroffenen Markt in erheblichem Ausmaß steigen werden. Es ist eine belastbare, faktenbasierte Ableitung einer Preiserhöhung erforderlich, welche die Reaktionen von Wettbewerbern und potentiellen Wettbewerbern auf Preiserhöhungen einbezieht und auch Effizienzgewinne berücksichtigt. Zu den Effizienzgewinnen gehören insbesondere zusätzliche Investitionen in die Verbesserung der betroffenen Produkte und Leistungen (Rz. 276 bis 282).

Die Kommission muss die Tatsachen, die ein Unternehmen in seiner Wettbewerbsbedeutung über die anderen Marktteilnehmer herausragen lassen, belastbar und fundiert ermitteln und beweisen. Für Prognoseelemente gilt als Beweismaß ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad – dasselbe Beweismaß wie beim kollektiven Marktbeherrschungstest. Darüber hinaus muss die Kommission darlegen, weshalb ein Zusammenschluss nicht nur zu einer „einfachen“ Wettbewerbsbeschränkung führt, sondern zu einer „erheblichen“ Wettbewerbsbeschränkung.

Ausblick

Das Urteil wird in der Praxis und Literatur vielfach als Klarstellung verstanden, dass der SIEC-Test keine wesentliche Ausweitung der Untersagungsbefugnis darstellt. Er wurde nur eingeführt, um die sog. „gap cases“ zu erfassen, die vom Marktbeherrschungstest nicht vollständig abgedeckt sind. Sollte sich der Gerichtshof in seiner Rechtsmittelentscheidung unter dem Aktenzeichen C-376/20 P dem EuG anschließen, hätte dies eine fusionskontrollrechtliche Neubewertung von Zusammenschlüssen in konzentrierten Märkten zur Folge.

Die Freigabechancen in „4 zu 3“-Konstellationen im engen Oligopol wären infolge des Urteils höher, während die Ermittlungs- und Darlegungslast der Kommission ebenfalls merklich anstiege. Die Kommission müsste ihre ökonomischen Analysen optimieren und an den vom Gericht gesetzten Standard anpassen, so dass künftig eine klare, einheitliche und vorhersehbare Handhabung des SIEC-Tests gewährleistet ist. Die wettbewerbliche Analyse muss stets in hinreichendem Maß eine Berücksichtigung von Effizienzgewinnen durch Zusammenschlüsse enthalten. In jedem Fall hätten die erhöhten Anforderungen an das Beweismaß zur Folge, dass der Entwicklung neuartiger ökonomischer Schadenstheorien eine gewisse Grenze gesetzt wäre.

Zum Teil wird von Experten gemutmaßt, dass die Kommission in geeigneten Fällen künftig erwägen könnte, wieder verstärkt koordinierte Effekte durch die Verstärkung einer kollektiven Marktbeherrschung als alternative Schadenstheorie in den Fokus zu rücken. Diese Überlegung beruht darauf, dass die Beweisanforderungen an die Darlegung der Verstärkung eines marktbeherrschenden Oligopols nicht mehr sehr viel höher wären als nunmehr nach diesem Urteil für unilaterale Effekte. Unterhalb der Marktbeherrschungsschwelle ist eine Berufung auf koordinierte Effekte aber weiterhin unwahrscheinlich.

Wie sich der Gerichtshof entscheidet, bleibt abzuwarten. Die Kommission hat in ersten Reaktionen deutlich gemacht, dass dieses Urteil ihre Möglichkeiten, in der Fusionskontrolle wirksamen Wettbewerb durchzusetzen, einschränken würde. Daher dürfte der Gerichtshof diese Rechtsfolgenargumente gewissenhaft abwägen. Auf der anderen Seite dürfen die Hoffnungen für Unternehmen auch nicht überspannt werden, wenn das Urteil durch den Gerichtshof (teilweise) bestätigt wird. Führt die Reduktion von vier auf drei Wettbewerber in einem Markt zu nachhaltig höheren Preisen, kann die Kommission das Zusammenschlussvorhaben untersagen und wird das auch künftig tun. Es ist aber gut möglich, dass nunmehr, zumindest bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung, die Bereitschaft der Kommission steigen könnte, auch ggf. unkonventionellere Verpflichtungszusagen zu akzeptieren, um eine Untersagung – auf unsicherer Grundlage – abzuwenden. Zwar wird die Kommission versuchen, ihre strenge Linie in derartigen Konstellationen beizubehalten. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass die Kommission das Risiko eingehen würde, eine ähnliche Welle von Gerichtsniederlagen in Fusionssachen zu erleiden wie Anfang der 2000er-Jahre nach der Sache Airtours. Bis der Gerichtshof entscheidet – erfahrungsgemäß frühestens gegen Ende 2021 –, dürfte die Kommission daher die Vorgaben des Gerichts in potentiellen Untersagungsfällen nicht gänzlich ignorieren. Das bedeutet aber auch, dass komplexe Zusammenschlussverfahren in derartigen Märkten wegen der höheren Beweisanforderungen zu einem noch intensiveren Verfahrensaufwand führen dürften. Es ist zu erwarten, dass die Kommission sich insbesondere dadurch absichern wird, dass sie noch mehr Daten erheben und auswerten wird, als das bisher ohnehin schon der Fall ist.

Über das Urteil hinaus lässt sich auch anhand von persönlichen Stellungnahmen des Präsidenten des Gerichts, Marc van der Woude, der Trend ablesen, dass das Gericht die richterliche Kontrolle über Fusionsentscheidungen der Kommission in Zukunft weiter verschärfen dürfte. Dies wäre aus rechtsstaatlicher Sicht zu begrüßen. Es steht allerdings im Widerspruch zu der unverändert relativ großzügigen Kontrolle von Kommissionsentscheidungen in Bußgeldverfahren. Mit Spannung wird jedenfalls erwartet, ob das Gericht die in diesem Urteil vorgezeichnete Linie auch in anderen anhängigen Nichtigkeitsklagen gegen Untersagungsentscheidungen der Kommission (z.B. ThyssenKrupp/Tata, Rs. T-584/19) fortsetzt.

 

Autor: Philipp Pichler

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