Arbeitsrecht

Besonderheiten bei außerordentlicher Kündigung von Betriebsratsmitgliedern

Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einem Betriebsratsmitglied während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens vorsorglich für den Fall, dass es einer Zustimmung des Betriebsrats nach § 103 BetrVG nicht (mehr) bedarf, liegt darin keine Rücknahme des Zustimmungsersuchens. Auch ein „Verbrauch“ der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG ist damit nicht verbunden.

BAG, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 AZR 238/20

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, fristlosen Kündigung. Der Kläger war bis zum 14. Mai 2018 Mitglied des Betriebsrats. Der Arbeitgeber beantragte am 30. April 2018 beim Betriebsrat die Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Klägers gemäß § 103 BetrVG. „Höchstvorsorglich“ hörte sie den Betriebsrat zugleich nach § 102 BetrVG an. Der Betriebsrat verweigerte seine Zustimmung, woraufhin die Beklagte am 4. Mai 2018 ein gerichtliches Zustimmungsersetzungsverfahren einleitete. Mit Schreiben vom selben Tag kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos. Die Unwirksamkeit dieser Kündigung ist rechtskräftig festgestellt.

Am 9. Mai 2018 beantragte der Arbeitgeber erneut die Zustimmung des Betriebsrats nach § 103 BetrVG und hörte ihn rein vorsorglich nach § 102 BetrVG an. Der Betriebsrat verweigerte seine Zustimmung und widersprach der beabsichtigten Kündigung am 14. Mai 2018, dem letzten Tag der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB. Der Arbeitgeber leitete kein weiteres Zustimmungsersetzungsverfahren ein. Mit Schreiben vom 15. Mai 2018 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erneut außerordentlich fristlos. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Begründung, die Kündigungserklärungsfrist sei nicht gewahrt. Anders als das Arbeitsgericht, gab das LAG der Kündigungsschutzklage statt.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Das BAG hob die Entscheidung des LAG auf und verwies die Sache zurück.

Eine außerordentliche Kündigung ist nicht wegen Überschreitens der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat innerhalb der Zwei-Wochen-Frist um Zustimmung nach § 103 BetrVG ersucht und bei Verweigerung derselben das gerichtliche Zustimmungsersetzungsverfahren eingeleitet hat. Der Arbeitgeber kann die Kündigung auch nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB erklären, wenn sie unverzüglich nach der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Zustimmungsersetzung erklärt wird (§ 174 Abs. 5 SGB IX analog). Endet der Sonderkündigungsschutz während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens, muss der Arbeitgeber die außerordentliche Kündigung unverzüglich nach Kenntniserlangung hiervon aussprechen.

Erklärt der Arbeitgeber während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens eine mangels Zustimmung des Betriebsrats unwirksame Kündigung, führt das weder zum „Verbrauch“ der Anhörung nach § 102 BetrVG noch ist darin eine Rücknahme des Zustimmungsersuchens nach § 103 BetrVG zu sehen.

  • Das BAG geht davon aus, dass eine solche Kündigung vorsorglich für den Fall ausgesprochen wird, dass es einer Zustimmung des Betriebsrats nicht (mehr) bedarf.
  • Ein „Verbrauch“ der Anhörung nach § 102 BetrVG kommt nicht in Betracht, solange der Arbeitgeber sein Ersuchen um Zustimmung gegenüber dem Betriebsrat aufrechterhält und das Zustimmungsersetzungsverfahren fortführt. Der Betriebsrat könne erkennen, dass eine auf denselben Lebenssachverhalt gestützte Kündigungsabsicht fortbesteht.

Gleiss Lutz kommentiert

Bei der außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit Betriebsratsmitgliedern sollte der Arbeitgeber zwei verschiedene Fristen im Blick behalten: Die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB und die Drei-Tages-Frist beim Zustimmungsersuchen gegenüber dem Betriebsrat nach § 103 BetrVG. Lässt der Betriebsrat die Drei-Tages-Frist reaktionslos verstreichen oder verweigert er seine Zustimmung, muss der Arbeitgeber noch innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gerichtlich die Zustimmungsersetzung nach § 103 Abs. 2 BetrVG beantragen. Hält der Arbeitgeber dieses Verfahren ein, ist für den Ausspruch der Kündigung nicht mehr die Zwei-Wochen-Frist maßgeblich, sondern es gilt § 174 Abs. 5 SGB IX analog, d.h. die Kündigung muss unverzüglich nach der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Zustimmungsersetzung erklärt werden. Das BAG hat mit seiner Entscheidung klargestellt, dass sich an diesen Grundsätzen auch dann nichts ändert, wenn der Arbeitgeber während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens rein vorsorglich eine Kündigung ausspricht. Eine solche vorsorgliche Kündigung ist dann in Betracht zu ziehen, wenn Zweifel am Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes bestehen. In jedem Fall empfiehlt sich auch bei Betriebsratsmitgliedern rein vorsorglich das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen.

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