Arbeitsrecht

Begrenzte Anrechnung gleichwertiger Vordienstzeiten

Eine nationale Regelung, die für die Ermittlung der Höhe des Entgelts eines Arbeitnehmers gleichwertige Vordienstzeiten, die bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zurückgelegt wurden, nur im begrenzten Umfang berücksichtigt, ist mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu vereinbaren.

EuGH, Urteil vom 23. April 2020 – C-710/18

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, eine deutsche Staatsangehörige, war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich an verschiedenen Collèges und Lycées als Lehrerin tätig. Weniger als sechs Monate nach Beendigung dieser Tätigkeit wurde sie vom Land Niedersachsen auf Grundlage des TV-L als Lehrerin eingestellt. Ihre in Frankreich erworbene Berufserfahrung wurde für die Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TV-L als gleichwertig anerkannt, aber nur teilweise angerechnet, weil sie sich aus Arbeitsverhältnissen zu anderen – ausländischen – Arbeitgebern ergab.

§ 16 Abs. 2 TV-L sieht die unbegrenzte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung nur bei einem Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber vor. Bei einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber wird die Anrechnung dagegen begrenzt. Die Klägerin beantragte die Neueinstufung in diejenige Stufe, in die sie eingeordnet worden wäre, wenn sie eine 17 Jahre lange Berufserfahrung im Rahmen eines früheren Arbeitsverhältnisses bei demselben Arbeitgeber erworben hätte. Der Antrag wurde abgelehnt. Die hiergegen gerichtete und in erster Instanz erfolgreiche Klage wurde vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Revision zum BAG ein.

Das BAG legte dem EuGH zur Vorabentscheidung die – vom EuGH umformulierte – Frage vor, ob Art. 45 Abs. 1 AEUV dahingehend auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der für die Ermittlung der Höhe des Entgelts eines bei einer Gebietskörperschaft als Lehrer beschäftigten Arbeitnehmers die einschlägigen Vordienstzeiten, die von diesem Arbeitnehmer bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen anderen Arbeitgeber als dieser Gebietskörperschaft zurückgelegt wurden, nur im Umfang von insgesamt bis zu drei Jahren angerechnet werden.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs

Nach Art. 45 Abs. 1 AUEV haben alle Angehörigen von Mitgliedstaaten das Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich zur Ausübung einer Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten. Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit steht nationalen Maßnahmen entgegen, die geeignet sind, diese Freiheit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Vor diesem Hintergrund entschied der EuGH, dass § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtige. Deutsche Wanderarbeitnehmer würden davon abgehalten, die gleiche oder eine oder mehrere vergleichbare Tätigkeiten an Einrichtungen außerhalb des Bundeslands oder in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wenn bei Rückkehr trotz im Wesentlichen gleicher Arbeit bei der Entgelteinstufung nicht die gesamte gleichwertige Berufserfahrung angerechnet werde.

Die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist auch nicht durch legitime Ziele gerechtfertigt. Weder der Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von befristet und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern oder der Lohngerechtigkeit noch das Ziel, Arbeitnehmer an den Arbeitgeber zu binden oder den Arbeitnehmer zur Rückkehr zum Arbeitgeber zu bewegen, vermögen nach dem Urteil des EuGHs die Beeinträchtigung zu rechtfertigen:

  • Da § 16 Abs. 2 TV-L nicht zwischen befristet und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern differenziert, konnte das Ziel der Gleichbehandlung dieser Arbeitnehmer nicht die Benachteiligung von Personen rechtfertigen, die gleichwertige Berufserfahrung bei einem anderen Arbeitgeber erworben haben. Ohnehin, so der EuGH, sei der teilweise Ausschluss gleichwertiger Berufserfahrung bei anderen Arbeitgebern nicht erforderlich, um diese Gleichbehandlung sicherzustellen.
  • Hinsichtlich der Lohngerechtigkeit stellt der EuGH fest, dass die Berufungserfahrung der Klägerin als im Wesentlichen gleichwertig anerkannt wurde. Damit sei die begrenzte Anrechnung nicht geeignet, um zwischen besseren und schlechteren Leistungen zu differenzieren.
  • Zudem sei die Regelung nicht geeignet, die Treue eines Lehrers zu einer bestimmten Schule zu fördern, da ihm die nach seiner Berufserfahrung bestimmte Bezahlung auch dann geschuldet werde, wenn die Schule innerhalb des Bundeslandes gewechselt werde.
  • Schließlich bewege eine solche Regelung Arbeitnehmer auch nicht zur Rückkehr zum Arbeitgeber, sondern hindere sie vielmehr daran, eine gleichwertige Berufserfahrung bei einem anderen Arbeitgeber zu erwerben, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.

Gleiss Lutz kommentiert

Das Urteil ist die erwartete Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung des EuGHs zur Anrechnung von Vordienstzeiten bei der Entgelthöhe. Die gleichwertige Berufserfahrung von Arbeitnehmern, die aus dem europäischen Ausland zu einem nationalen Arbeitgeber wechseln, sind unbegrenzt anzurechnen, wenn eine entsprechende nationale Anrechnungsregelung existiert. Begrenzt eine nationale Rechtsvorschrift die Anrechnung auf bestimmte inländische Arbeitgeber, ist sie auf grenzüberschreitende Sachverhalte nicht anzuwenden. Da der EuGH lediglich Unionsrecht prüft, ist für Arbeitnehmer, die ihren Arbeitgeber im Inland wechseln, nach wie vor eine begrenzte Anrechnung zulässig. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L bleibt damit wirksam und auf Inlandssachverhalte anwendbar.

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