Arbeitsrecht

Keine Zurechnung einer Erklärung bei „Alleingang“ des Betriebsratsvorsitzenden

Das BAG hat entschieden, dass eine Erklärung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung, die der Betriebsratsvorsitzende ohne entsprechenden Beschluss des Gremiums abgibt, dem Betriebsrat generell nicht auf Grundlage einer sog. Anscheinsvollmacht zugerechnet werden kann. Eine nachträgliche Genehmigung durch den Betriebsrat bleibt allerdings zulässig.

BAG, Urteil vom 8. Februar 2022 – 1 AZR 233/21

 

Sachverhalt

Der Rechtsstreit betrifft die zutreffende Einstufung des klagenden Arbeitnehmers in das Entgeltsystem nach dem Lohnrahmentarifvertrag für die Eisen- und Stahlindustrie. Während der Arbeitnehmer sich auf eine (für ihn günstigere) Betriebsvereinbarung zur tariflichen Arbeitsbewertung aus dem Jahr 1967 berief, vertrat die Arbeitgeberin die Ansicht, die Einstufung richte sich nach einer neueren Betriebsvereinbarung. Letztere wurde vom Vorsitzenden des Betriebsrats im Juni 2017 unterzeichnet und wurde seit 2018 als Grundlage für die Vergütung des Arbeitnehmers herangezogen. Dieser forderte mit seiner Klage die Vergütung nach der Betriebsvereinbarung aus den Sechzigerjahren und hat zur Begründung angeführt, die neue Betriebsvereinbarung habe die bisherige Regelung schon mangels eines wirksamen Betriebsratsbeschlusses nicht abgelöst. Die Arbeitgeberin argumentierte im Prozess, die neue Betriebsvereinbarung sei jedenfalls aus dem Grund wirksam zustande gekommen, weil dem Betriebsrat die Zustimmung durch seinen Vorsitzenden nach den Grundsätzen einer sog. Anscheinsvollmacht zuzurechnen sei.

 

Entscheidung

Das BAG gab dem Arbeitnehmer im Ergebnis Recht. Die neue Betriebsvereinbarung sei nicht allein durch Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden wirksam zustande gekommen, da der Erklärung des Vorsitzenden kein entsprechender Betriebsratsbeschluss zugrunde lag. Die Auffassung der Arbeitgeberin, das Handeln könne dem Betriebsrat wegen des Anscheins einer ordnungsgemäßen Vertretung zugerechnet werden, lehnte das Gericht ab: Eine Vertretung durch den Vorsitzenden sei gem. § 26 II 1 BetrVG nur im Rahmen der vom Betriebsrat gefassten Beschlüsse möglich. Im Allgemeinen bestehe daher keine Befugnis des Betriebsratsvorsitzenden, eigene rechtsgeschäftliche Entscheidungen anstelle des gesamten Betriebsrats zu treffen, sofern eine eigene Entscheidungsbefugnis vom Gesetz nicht explizit eingeräumt wird. Der Abschluss von Betriebsvereinbarung erfordere demnach eine demokratischen Grundprinzipien gerecht werdende Willensbildung des Betriebsrats als Kollegialorgan. Der bloße Rechtsschein des Handelns auf Grundlage eines Betriebsratsbeschlusses reiche nicht aus. Dies begründete das BAG mit den weitreichenden Folgen einer Betriebsvereinbarung, die – wie der vorliegende Fall zeigt – ggfs. sogar Wirkung zulasten betriebsangehöriger Arbeitnehmer entfalten könne.

Das BAG weist im Übrigen auch auf die Heilungsmöglichkeit bei fehlendem Betriebsratsbeschluss hin. In diesem Fall seien Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zunächst (nur) schwebend Unwirksam. Betriebsvereinbarungen entfalten daher im Ausgangspunkt zwar keine Rechtswirkung, können jedoch durch einen nachträglichen Beschluss des Betriebsrats (rückwirkend) genehmigt und damit wirksam werden. Für den Abschluss der Betriebsvereinbarung im Jahr 2017 durch den Vorsitzenden fehlte es allerdings an einer solchen Genehmigung durch den Betriebsrat.

 

Gleiss Lutz kommentiert

Das BAG schafft für die Praxis Klarheit zu einer Frage, die bislang unterschiedlich beurteilt wurde. Vor allem die Instanzgerichte hatten in der Vergangenheit häufig anders entschieden und Erklärungen des Betriebsratsvorsitzenden dem Betriebsrat unter Umständen nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht zugerechnet, wenn der Arbeitgeber auf eine ordnungsgemäße Vertretung des Betriebsrats durch dessen Vorsitzenden vertrauen durfte.

Arbeitgebern ist nach dem Urteil des BAG zu raten, bei Vereinbarungen in Zukunft verstärkt auf die Legitimation des Betriebsratsvorsitzenden zu achten, da ansonsten die Unwirksamkeit betrieblicher Regelungen droht. Ein Anspruch auf nachträgliche Genehmigung nicht wirksam zustande gekommener Betriebsvereinbarungen durch den Betriebsrat besteht nämlich nicht. Insofern haben Arbeitgeber aber die Möglichkeit, sich durch Anforderung der Sitzungsniederschrift des Betriebsrats, aus der sich die zugrundeliegende Beschlussfassung ergibt, abzusichern. Dieses Recht auf Überlassung einer (ohnehin anzufertigenden) Sitzungsniederschrift des Betriebsrats folgt nach Auffassung des BAG aus dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Das Begehren ist vom Arbeitgeber zeitnah nach Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung geltend zu machen.

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