Arbeitsrecht

Anwendbares Sozialversicherungsrecht bei grenzüberschreitender Leiharbeit

Ein Leiharbeitsunternehmen ist in einem Mitgliedstaat nur dann „gewöhnlich tätig“ im Sinne des Art. 12 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004, wenn es in nennenswertem Umfang Arbeitnehmer an in diesem Mitgliedstaat ebenfalls ansässige Unternehmen überlässt.

EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-784/19

Sachverhalt

Das bulgarische Leiharbeitsunternehmen „Team Power Europe“ schloss mit einem bulgarischen Staatsangehörigen einen Arbeitsvertrag und überließ ihn im Zeitraum vom 15. Oktober bis 21. Dezember 2018 an ein in Deutschland ansässiges Unternehmen. Im Mai 2019 beantragte Team Power Europe die Ausstellung einer sog. „A1 Bescheinigung“, mit der bescheinigt werden sollte, dass die bulgarischen Sozialversicherungsvorschriften während der Zeit der Überlassung weiterhin auf den Arbeitnehmer anwendbar waren. Die zuständige bulgarische Behörde lehnte den Antrag ab. Nach erfolglosem Widerspruch erhob das Leiharbeitsunternehmen Klage. Das mit der Sache befasste Verwaltungsgericht setzte das Verfahren aus und fragte den EuGH, ob ein Leiharbeitsunternehmen auch dann einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit in einem Mitgliedstaat erbringt, wenn es ausschließlich oder hauptsächlich Arbeitskräfte in andere EU-Mitgliedstaaten vermittelt.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH legt Art. 14 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 987/2009, der Art. 12 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 präzisiert, so aus, dass ein Leiharbeitsunternehmen in einem Mitgliedstaat nur dann einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit ausübt, wenn es in nennenswertem Umfang Arbeitnehmer an in diesem Mitgliedstaat ebenfalls ansässige Unternehmen überlässt. Allein die Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern reicht für die Annahme nicht aus, dass ein Unternehmen „gewöhnlich in diesem Mitgliedstaat tätig“ ist.

Seine Entscheidung stützt der EuGH insbesondere auf folgende Erwägungen:

  • Kennzeichnend für Leiharbeitsunternehmen sind Tätigkeiten der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen.
  • Der Begriff „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ in Art. 14 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 erfasst nur Tätigkeiten rein administrativer Art, die das interne Funktionieren des Unternehmens sicherstellen sollen, nicht aber die Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern.
  • Der Umsatz wird durch die Überlassung der Arbeitnehmer tatsächlich erwirtschaftet. Die Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern dient einzig dem Zweck, die Arbeitnehmer später zu überlassen.
  • Es darf kein Anreiz für Leiharbeitsunternehmen geschaffen werden, sich in dem Mitgliedstaat niederzulassen, in dem die für sie günstigsten Sozialversicherungsvorschriften gelten (sog. „forum shopping“).
  • Unternehmen sollen nicht eine Absenkung des Schutzniveaus und eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Inanspruchnahme von Leiharbeit dadurch bewirken, dass sie Vorteile aus den bestehenden Unterschieden zwischen den nationalen Sozialversicherungssystemen ziehen.

Gleiss Lutz kommentiert

Mit seiner Entscheidung stellt der EuGH klar, dass grenzüberschreitend tätige Leiharbeitsunternehmen sich zwar auf die Dienstleistungsfreiheit berufen können. Ihre Arbeitnehmer können sie während der Zeit der Überlassung ins Ausland aber nur dann im Inland sozial versichern, wenn das Leiharbeitsunternehmen nicht ausschließlich oder hauptsächlich Arbeitskräfte in andere EU-Mitgliedstaaten vermittelt, sondern auch im Inland Arbeitskräfte überlässt. Art. 12 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 statuiert für Entsendungen eine Ausnahme vom sog. Beschäftigungsortprinzip, wonach sich das anwendbare Sozialversicherungsrecht nach dem Ort der tatsächlichen Ausübung der Tätigkeit richtet. Eine weitere praxisrelevante Ausnahme sieht die Verordnung für den Fall vor, dass ein Arbeitnehmer gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten tätig ist. Werden Arbeitnehmer im falschen Land sozial versichert, kann dies unangenehme Folgen haben (Strafbarkeitsrisiken, Säumniszuschläge). Bei Zweifeln sollte daher fachkundiger Rat eingeholt werden. Hilfreiche Informationen zu dem Thema finden sich auch auf der Website der DVKA.

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